Radsport in Deutschland:Jedermann fährt Rad

Gerade hat das letzte deutsche Profi-Team mangels Sponsoren aufgegeben. Dennoch lebt der Radsport in Deutschland - die Breitensport-Szene boomt wie nie zuvor.

David Binnig

Es war im strömenden Regen nur verschwommen zu sehen, das erste hellblau-weiße Trikot mit dem Kuhflecken-Muster. Sein Träger hieß Fabian Wegmann und kam am Samstag als 15. ins Ziel der Lombardei-Rundfahrt - mit fast sechs Minuten Rückstand auf den belgischen Sieger Philippe Gilbert. Beim letzten großen Auftritt des Team Milram, des letzten großen Rad-Teams aus Deutschland.

Radsport - Tour de France-Team von Milram

Die Kapitäne des Team Milram (Fabian Wegmann, Gerald Ciolek und Linus Gerdemann) haben keine Probleme, einen Vertrag bei einem anderen Team zu bekommen.

(Foto: dpa)

Die auffälligen Milram-Trikots verschwinden endgültig aus dem Fahrerfeld. Teamchef Gerry van Gerwen hat gekämpft, gehofft - und verloren. Nun stellt er die pathetische Frage: "Der Radsport braucht Deutschland. Die Frage ist jedoch, ob Deutschland den Profi-Radsport braucht." Van Gerwen leitet ein untergehendes Unternehmen in einem untergegangenen Markt. 20 Jahre lang war mindestens ein deutsches Profi-Team in der höchsten Klasse des Radsports vertreten - vor drei Jahren waren es sogar drei. Diese Ära ist vorbei. Der Profi-Radsport ist nach all den Dopingskandalen vielleicht auf Jahre diskreditiert. Und dennoch lebt der deutsche Radsport.

"Mehr als gut"

Während die Profi-Rennen sterben, entstehen immer mehr Veranstaltungen für Hobby-Fahrer. Europas größtes Radrennen findet in Hamburg statt. Teilnehmerzahl in der sogenannten Jedermann-Klasse bei den Hamburg Cyclassics in diesem Jahr: 22.000. Die Startplätze waren Wochen vorher ausgebucht. Europas zweitgrößtes und am schnellsten wachsendes Radrennen findet in Berlin statt - der Velothon. Teilnehmerzahl: 12.000.

"Berlin ist mehr als gut angelaufen", sagt Kai Rapp, der mit seiner Agentur Upsolut das Rennen veranstaltet, "das hat unsere Erwartungen zu mehr als 100 Prozent übertroffen." Er ist schon länger im Geschäft, vor zwei Jahren noch organisierte er das größte Profi-Rennen des Landes: die Deutschland-Tour. Doch 2008 sprang das Fernsehen ab und damit auch die Sponsoren.

Jetzt veranstaltet Upsolut die Cyclassics und den Velothon. "Es gibt zwei getrennte Sachen", sagt Rapp, "den TV-Sport, den man als Entertainment-Produkt im Fernsehen anschaut - und den Breitensport, der ein gesellschaftliches Gut darstellt."

Rapp ist mit seinem Konzept gar auf Expansionskurs ins Ausland: "Wir bekommen immer wieder Anfragen von deutschen Städten. Das Radkonzept im Breitensport funktioniert sogar so gut, dass wir es nun in den englischen Markt exportieren möchten."

Der Aufschwung ist da. Aber woher er kommt - "das versuchen auch wir zu ergründen". Ob das deutsche Sommermärchen 1997 der Auslöser war? Damals schenkte Jan Ullrich Deutschland den ersten Tour-de-France-Sieg - und Deutschland schenkte ihm Bewunderung. Man war gründlich begeistert - und später, nach den Dopinggeschichten, ebenso gründlich enttäuscht. Und so glaubt Rapp daran, dass auch "steigende Individualisierung im Sport, zunehmendes Körperbewusstsein, der Wertewandel" für den Boom im Breiten-Radsport verantwortlich seien.

"Was soll da noch kaputtgehen?"

Neben den Wettkämpfen für jedermann gibt es noch die traditionellen Radtourenfahrten. Bei ihnen gibt es keine Sieger, keine Zeitnahme, die Straßenverkehrsordnung ist einzuhalten. Die Streckenlänge liegt zwischen 41 und 170 Kilometern. Zwischen 800 und 1000 Vereine richten solche Veranstaltungen aus. Etwa 5000 Touren werden pro Jahr angeboten. "Wir schätzen, dass etwa eine Million Menschen mitfahren", sagt Bruno Nettesheim vom Bund Deutscher Radfahrer.

Man trifft sich mit Gleichgesinnten, man fährt zur Entspannung, um die Natur und sich selbst zu erleben. An diesem Trend wird wohl auch der derzeitige Niedergang des deutschen Profi-Radsports nichts ändern. Deutschland ist kein Radsportland wie Spanien oder Italien. Hier gibt es keine Heldenverehrung mehr. Auch wenn die Nachwuchsarbeit noch gut funktioniert. Das beweist schon die Medaillenausbeute bei der WM in diesem Jahr: Der 25-jährige Tony Martin holte Bronze im Zeitfahren der Profis, John Degenkolb und Marcel Kittel standen in den U23-Rennen auf dem Podium. 2012 will das junge deutsche NetApp-Team an der Tour de France teilnehmen. Nur: Der Grad des öffentlichen Interesses bewegt sich in Richtung Billard-WM-Niveau.

Deutschland ist eine andere Art von Radsportland. Radfahren ist eine Massenbewegung. "Daran hat der Fall Contador nichts großartig geändert", sagt Kai Rapp. "Auf den Breitensport wirkt sich das nicht aus. Und beim Profisport - was soll da in Deutschland noch kaputtgehen?"

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