Radsport:Im Fiebertraum

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Brutal, hart, grausam - ja. Aber war die Strecke zu gefährlich? Nach den schweren Stürzen bei den Straßenrennen müssen sich Organisatoren und Weltverband kritische Fragen stellen.

Von Johannes Knuth

Das eine Bild des Wochenendes zeigte zwei Sportler, Arm in Arm. Der neue Olympiasieger im Straßenrennen, Greg Van Avermaet aus Belgien, und der Zweite, der Däne Jakob Fuglsang, rollten Schulter an Schulter durchs Ziel, durch den Nebel ihrer Erschöpfung, sie hatten sich gerade ihre Medaillen auf den letzten Meter gemeinsam erarbeitet, nach 240 Kilometern durch Stadt, Land, Urwald. Mit Kopfsteinpflaster, Anstiegen und scharfen Kehren, als hätte jemand jede erdenkliche Schwierigkeit ersonnen, aneinandergeknüpft und in die Landschaft gepflanzt. Man wusste nur nicht so recht, was bei Van Avermaet und Fuglsang im ersten Moment überwog: Die Freude über ihre Taten, oder ob sie einfach nur froh waren, dass sie nicht vom Rad gefallen waren.

In den Fokus rückten am Montag, nach den Straßenrennen der Frauen und Männer in Rio de Janeiro, dann aber weniger die Fahrer, sondern die Ärzte, und das war eher keine gute Nachricht. Bei den Männern klatschte der Türke Ahmet Örken aufs Kopfsteinpflaster, der Iraner Mirsamad Pourseyedi bremste vor einer Kehre zu spät und rauschte kopfüber gegen eine Mauer. Am Vista Chinesa verunfallten Richie Porte aus Australien (Schulterblattbruch), der Brite Geraint Thomas sowie die Führenden, der Italiener Vincenzo Nibali (Schlüsselbein) und der Kolumbianer Sergio Henao (Beckenbruch). Am Sonntag, bei den Frauen, stürzten weniger Fahrerinnen, aber sie waren mächtig erschöpft, als sie den letzten, knapp neun Kilometer langen Anstieg hinaufkletterten. Der Wind, der von der Küste ins Land gerast war, hatte heftig an ihnen gerüttelt. Dann erwischte es wieder die Führende.

Die gestürzte van Vleuten war vor einem Jahr im Trainingslager mit einem Auto zusammengeprallt

Der Niederländerin Annemiek van Vleuten entglitt auf der Abfahrt vom Vista Chinesa die Kontrolle, sie überschlug sich, lag reglos am Bordstein. Der Schleier des Schreckens hob sich langsam, am Ende gab es zarte Entwarnung: Drei Knochenabsplitterungen an der Lendenwirbelsäule, eine schwere Gehirnerschütterung, van Vleuten verbrachte die Nacht auf der Intensivstation, zur Beobachtung. "Ich habe ein paar Verletzungen und Brüche", teilte sie mit, "ich werde okay sein. Ich bin vor allem super-enttäuscht nach dem besten Rennen meiner Karriere." Es wird ihr zweiter, etwas längerer Aufenthalt im Krankenhaus werden, vor einem Jahr war sie im Trainingslager in Italien mit einem Auto zusammengeprallt: Knochenbrüche, Lungenquetschung. Sie könne froh sein, dass sie noch lebe, sagte sie später.

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(Foto: Paul Hanna/Reuters)

Eine Siegerin, die mit gemischten Gefühlen posierte: Anna van der Breggen hatte ihre Teamgefährtin Annemiek van Vleuten reglos am Boden liegen sehen.

Zu geschafft, um die Kurve zu kriegen: Der iranische Radfahrer Mirsamad Pourseyedi kam bei seinem Sturz im Männerrennen mit dem Schreck davon. Screenshot: NBC/SZ

Auf Medaillenkurs lag Annemiek van Vleuten, als es ihr in den gefährlichen Kurven-Kombinationen das Rad verriss und sie schwer stürzte. Screenshot: ZDF/SZ

Die ersten Umfragen im Fahrerfeld zeichneten in Rio ein recht kriegerisches Bild: "Brutal" (Simon Geschke), "brutal, brutal" (Daniel Martin), "so hart" (Silbergewinnerin Emma Johansson), "savage" (Christopher Froome). Letztgenanntes kann man mit grausam, wild, unzivilisiert übersetzen. Aber zu gefährlich? Da leisteten die Fahrer geschlossen Widerrede. Er habe gespürt, wie manche von Runde zu Runde auf der hügeligen Schleife durch den Wald schneller wurden, sagte Olympiasieger Van Avermaet, "wenn du zu schnell bist, kommst du manchmal nicht um die Kurve. Ein paar haben das Limit überschritten". Sein deutscher Kollege Geschke assistierte: "Nach sechs Stunden ist man am Limit und trifft nicht mehr so die Ideallinie. Da kann jeder Fehler machen."

Die Fahrer zwängten sich zwar mehrmals durch die Abfahrten, sie konnten Kurven und Gefahren studieren, das Beweismaterial aus dem tropischen Wald aber kaum auswerten. "Es sieht in der Abfahrt alles gleich aus", sagte Trixi Worrack, die 43. wurde in ihrem ersten Olympiarennen, nachdem sie im März wegen eines Sturzes eine Niere verloren hatte: "Man kann sich an nichts erinnern, auch wenn man 50 Mal runterfährt. Man weiß nicht, welche Kurve schwer ist, welche zumacht." Van Vleuten hatte eine dieser Kurven offenbar zu direkt angesteuert. "Wenn du in Führung liegst, nimmst du vielleicht zu viel Risiko", sagte Anna van der Breggen, die Olympiasiegerin; ihre Beisitzerinnen im Pressesaal nickten. Man einigte sich darauf, dass der Radsport nun mal so sei. Und was sollte man den Fahrern vorwerfen? Dass sie dem Olympiasieg mit aller Entschlossenheit nachjagen, der nur alle vier Jahre als Ziel am Horizont auftaucht?

Auch die Streckenführung des Zeitfahrens am Mittwoch gefällt nicht allen Experten

Auch der Radsport-Weltverband UCI, der den Kurs entworfen hatte, stemmte sich umgehend gegen Kritik: "Der Kurs war sorgsam entworfen und wurde ausgiebig getestet. Wir tun unser Möglichstes, um sichere und herausfordernde Kurse anzubieten, aber leider passieren manchmal Stürze wegen einer Kombination von Gründen." Bahnrad-Olympiasieger und TV-Experte Chris Boardman aus England hatte den Kurs nach dem Rennen als "gemeingefährlich" eingestuft. Er war erbost, dass die Organisatoren nach dem Rennen der Männer zwar neue Sicherheitsnetze installiert hatten, die Streckenführung aber nicht mehr korrigieren wollten. "Das finde ich schrecklich", sagte Boardman. Er stand mit seiner Kritik zunächst recht alleine da. Patrick Moster, Sportdirektor im Bund Deutscher Radfahrer, befand: "Die Strecke war sicherlich sehr, sehr, sehr schwer, aber jedem Sportler bekannt. Zum Bergauffahren gehört nun mal das Bergabfahren."

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(Foto: imago/Gerry Schmit)

"Es wird alles wieder gut", twitterte Annemiek van Vleuten, 33, nach ihrem fürchterlichen Sturz. "Ich bin vor allem superenttäuscht nach dem besten Rennen meiner Karriere." Foto: Schmit/Imago

Am Ende bekamen die Organisatoren wohl die Rennen, die sie sich erhofft hatten, zwei Ritte wie aus einem Fiebertraum. Ein Reporter hatte Geschke vor dem Rennen gefragt, ob in einem derart extremen Parcours noch das olympische Motto stecke, wonach möglichst viele Nationen am Wettbewerb teilhaben sollten. "Es ist halt Olympia, das größte Sportereignis der Welt", sagte Geschke trocken. Sein Sportdirektor sah das etwas anders. "Man schließt mit so einem schweren Kurs eine ganze Menge an Sportlern aus", sagte Moster, die Sprinter waren gar nicht erst angereist. "Das ist, als würde man beim Stabhochsprung nur Springer zulassen, die sechs Meter springen", sagte Moster. Ungeachtet der Gefahr, dass ein überaus harter Parcours den Griff in den Dopingtopf forciert.

Sicherheit und Streckenführung sind seit einer Weile große Themen im Radsport, und der Austausch zwischen Fahrern, Veranstaltern und der UCI ist, milde gesagt, nicht gerade kollegial. Nach dem Testrennen in Rio hatten einige Verbände an die UCI herangetragen, dass man den Kurs etwas kürzen möge, man könne das Ziel ja in der Nähe der schweren Hügel-Abfahrt verlegen, "der Kurs wäre noch immer selektiv genug gewesen", sagt Moster. Aber die Organisatoren wollten unbedingt an der fernen Copacabana starten und aufhören. Sieht halt schöner aus. Am Mittwoch, beim Zeitfahren, werden die Männer erneut zwei hügelige Schleifen passieren "Man hätte sich in Radsportkreisen gewünscht, dass man nur eine Runde fährt, dass man sowohl Zeit- als auch Bergfahrern entgegenkommt. Aber gut, die UCI entscheidet das, ohne die Fachverbände zu fragen", sagt Moster. "Von daher muss man mit den Gegebenheiten zurechtkommen, die man vorfindet." Es wird wieder hart.

© SZ vom 09.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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