Radsport:"Go, Gorilla, rock le Touuur!"

Ein früherer Skispringer klettert über die Berge, ein Italiener pirscht frech in die Spitze, ein Team rettet sich mit drei Männern ins Ziel - fünf Schicksale der Frankreich-Rundfahrt 2017.

Von Johannes Knuth

Hoch Michael

Die erste Nacht, gestand Michael Matthews, war schlimm. Der Australier vom Team Sunweb hatte den Tag über zum ersten Mal das Grüne Trikot des Punktbesten bei der Tour getragen, dann konnte er einfach nicht einschlafen. Was auch daran lag, dass Matthews das Trikot im Bett anbehalten hatte und feststellte: "Es wird auf Dauer warm da drin. Ich musste es ausziehen." Seine Kleiderwahl war verständlich: Matthews hatte das Trikot zwar nach dem Sturz des fünfmaligen Etappensiegers Marcel Kittel bekommen, mit seiner Mannschaft aber auch "so hart dafür gearbeitet" - da entledigt man sich ungern der Insignien. Weil Matthews' Teamkollege Warren Barguil das Leibchen des besten Kletterers bis Paris verteidigte, beendete das mit deutscher Lizenz ausgestattete Team die Tour mit zwei Trikots und vier Etappensiegen, so gut war ihm noch keine große Rundfahrt gelungen - auch dank der deutschen Helfer Nikias Arndt und Simon Geschke. Es gebe nur ein kleines Problem, stellte Teamchef Iwan Spekenbrink fest: Man habe "fast zu viele Fahrer" ausgebildet, die sich demnächst um einen Tour-Gesamtsieg bewerben könnten. Spekenbrink beschäftigt neben Barguil noch den Niederländer Tom Dumoulin, der im Mai den Giro d'Italia gewann und während der Tour pausierte. Französische Medien spekulierten zuletzt, Barguil könnte nach der Saison fortziehen, um 2018 das Gelbe Trikot zu erwerben. Als weitgehend gesichert gilt bislang: Darin nächtigen wird er nicht.

Tief André

Sprinter André Greipel, Kampfname Gorilla, hat vor der Tour ein Lied aufgenommen, der Refrain: "Go, Gorilla, rock le Touuur, you are a champion for us toujouuurs / Go Gorilla, you are strooong, and in the end you'll be the number ooone." Er möge es eigentlich nicht, über sich zu singen, erklärte Greipel, aber er wollte auf eine ALS-Stiftung aufmerksam machen; seine Mutter leidet an der Krankheit: "Ich versuche, das auf einem spaßigen Weg rüberzubringen." Bei der Tour hatte der 35-Jährige weniger Spaß, bei den Sprints war meistens Marcel Kittel besser, beim Finale in Paris zog Greipel den Sprint zu spät an. Der Niederlänger Dylan Groenewegen gewann. Greipel beendete zum ersten Mal eine Tour ohne Etappensieg und stellte fest: "Alles, was man in der Vergangenheit gewonnen hat, hilft einem in der Zukunft nicht, Etappen zu gewinnen." Auch sonst waren sie in seiner Lotto-Soudal-Equipe sauer. Greipels Teamkollege Thomas De Gendt hatte während der vergangenen drei Wochen mehr als 1000 Kilometer in Fluchtgruppen verbracht, die Jury schob den Preis des angriffslustigsten Fahrers aber dem Franzosen Warren Barguil zu. "Die Jury sollte zumindest international besetzt sein", klagte De Gent, "wenn fünf Belgier da drin säßen, wäre das Ergebnis ein anderes." Statt fünf Belgiern saßen im Komitee fünf Franzosen.

Gemeinsam einsam

Thibaut Pinot hatte so eine Ahnung. "Ich hoffe, wir sind am Ende des Tages nicht zu fünft", sagte der Franzose in Diensten von FDJ. Die neunte Etappe durchs Jura-Gebirge lief noch, Pinots Kollege Arnaud Démare schleppte sich über die Berge, geplagt von einer Gastritis. Es war hoffnungslos, Démare würde kaum im Zeitlimit bleiben und aus der Tour genommen. Was FDJ nicht daran hinderte, drei Kollegen als Begleitschutz abzustellen. Am Ende kamen alle vier zu spät ins Ziel, und weil Arthur Vichot und Pinot ebenfalls aufgeben mussten, traf die Mannschaft in Paris mit der kleinsten Abordnung ein: Davide Cimolai (Italien), Rudy Molard und Oliver Le Gac (beide Frankreich). So dezimiert waren zuletzt Fassa-Bartolo und Gerolsteiner gewesen, vor 14 Jahren. Immerhin: Nach mehr als 3000 Kilometern hatten die drei Wehrhaften von FDJ so viel Beinfreiheit in ihrem Bus wie kein anderes Team.

Die Hand Froomes

Es war eine der umstrittensten Szenen dieser Tour: Wie Christopher Froome auf der neunten Etappe die Hand hob, einen Materialschaden anzeigte, wie der Italiener Fabio Aru an Froome vorbeizog und eine Attacke lancierte, die kurz darauf versandete. Den Gesamtführenden attackieren, während der in Nöten steckt, gilt im Peloton als unschicklich. Er habe Froomes Signal nicht gesehen, sagte Aru - und wirkte dabei so glaubhaft wie ein Achtjähriger, der den Mund voller Schokolade hat und behauptet, er habe nichts genascht. Arus Außendarstellung ist auch sonst umstritten, der 27-Jährige ist in Diensten von Alexander Winokurows Astana-Team, das in den vergangenen elf Jahren rekordverdächtige 14 Affären erlebte. Was man Aru nicht vorwerfen kann: mangelnden Willen. Der bedingte auch, dass er vor neun Jahren entdeckt wurde. Aru fuhr bei einem Nachwuchsrennen in Italien den besten Junioren hinterher, die Scouts lächelten mitleidig - nur ein Trainer bemerkte, dass Aru mit einem viel schwereren Querfeldeinrad fuhr. Bei der diesjährigen Tour gewann Aru am fünften Tag seine erste Etappe, nach Froomes Problemen in den Pyrenäen trug er zwei Tage lang das Gelbe Trikot. Der Gesamtsieg im nächsten Jahr? Aru wird es probieren, zu jeder Zeit.

Experte im Hochgebirge

Bei seinem ersten Radrennen war Primoz Roglic so nervös, dass seine Hände am Lenker klammerten. Roglic vergaß, seine Trinkvorräte anzutasten, es war ein chaotischer Auftritt, aber der Slowene wusste: Er hatte seinen Sport gefunden. Es gab nur ein Problem: Roglic hatte bereits eine Karriere als Skispringer hinter sich, war 2007 Teamweltmeister bei den Junioren geworden, stürzte dann schwer in Planica. Im Grunde war er mit seinen 22 Jahren zu alt, um sich in einen neuen Sport einzuarbeiten. Doch schnelle Erfolge und ein Kontrakt bei einem slowenischen Team vertrieben die Bedenken. Vor zwei Jahren wechselte er zur niederländischen Equipe LottoNL-Jumbo, gewann das Zeitfahren beim Giro d'Italia und bei der diesjährigen Italien-Rundfahrt die schwere 17. Bergprüfung in den Alpen. "Verrückt", sagte Roglic, aber seine Karriere sei so schnell verlaufen, da könne er sich gar nicht mit zu vielen Sorgen beladen. Der 27-Jährige wird künftig wohl keine große Rundfahrt gewinnen, aber es kann gut sein, dass er sich bald in einen Allrounder für Etappen in allen Geschmacksrichtungen verwandelt.

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