Radsport:Gefahr hinter jeder Kurve

Lesezeit: 3 min

In Italien löst der Unfalltod des 37 Jahre alten Radprofis Michele Scarponi Entsetzen aus - und eine Debatte über die Versäumnisse der Verkehrspolitik.

Von Birgit Schönau

Für Michele Scarponi wäre der Samstag der letzte Tag zu Hause gewesen, vor dem Mannschaftstraining auf den Straßen um den Vulkan Ätna auf Sizilien. Am 5. Mai startet zum 100. Mal der Giro d'Italia, und diese große Jubiläumsrundfahrt hätte Scarponi als Kapitän antreten sollen. Beim Team Astana galt es, Fabio Aru zu ersetzen, der wegen einer Verletzung ausfällt. Mit 37 Jahren hätte Scarponi also als Anführer glänzen können, nach einer Karriere in zweiter Reihe. Sicher, er hatte 2011 einen Giro gewonnen - allerdings nur, weil der Erstplatzierte Alberto Contador des Dopings überführt wurde. Bei elf Italien-Rundfahrten hatte Scarponi drei vierte Plätze eingefahren, er war also immer knapp am Podium vorbeigeschrammt. Viermal nahm er an der Tour de France teil, bestes Ergebnis war Platz 24. Er war kein Superstar des Radsports, weder umjubelt, noch umstritten. Sondern ein Wasserträger, bei Kollegen und Fans bekannt und beliebt wegen seiner ansteckenden guten Laune und seines Humors.

Am Morgen eines lichten und frischen Frühlingstags stieg Scarponi zum letzten Mal auf sein Rad, zu Hause in Filottrano, einem Nest in den Hügeln bei Ancona. Rund eine Stunde war er unterwegs, als er gegen acht Uhr bergab in einer Straßeneinmündung mit einem Transporter zusammenstieß. Scarponi hatte Vorfahrt, der Fahrer des Kleinlasters hatte ihn nicht gesehen. Die Räder des Fahrzeugs zermalmten Scarponis Brustkorb, er war auf der Stelle tot. Er hinterlässt seine Frau und zwei kleine Kinder, Zwillinge, denen er am Ende seiner Trainingsfahrt frische Frühstückshörnchen hatte mitbringen wollen.

In Italien und in der Welt des Radsports ist der Schrecken groß. Wie immer, wenn man durch einen tödlichen Unfall daran erinnert wird, dass nicht die Formel 1, nicht Eishockey oder Boxen, sondern Rennradfahren die gefährlichste aller Sportarten ist. "Wir fahren auf zwei Zentimeter breiten Reifen und trainieren im ganz normalen Straßenverkehr", sagte Davide Cassani, der nach einer Karriere als Wasserträger nun die italienische Nationalmannschaft trainiert: "Das kann gut gehen. Oder auch nicht." Niemand zählt die Stürze und Brüche bei einem großen Radrennen, schon gar nicht bei den Trainingseinheiten, nur die Toten gehen ein in die Statistik, als Märtyrer eines Sports, in dem es normal ist, brutalste Risiken einzugehen - auf der Straße oder auch im stillen Kämmerlein. So wie Marco Pantani, der sich nach schlimmen Unfällen immer wieder aufrappelte, 1998 triumphal Giro und Tour de France gewann, im Jahr darauf wegen Dopings disqualifiziert wurde und 2004 in einem Hotelzimmer in Rimini an einer Überdosis Kokain starb.

Nicht nur die Unfalltoten, auch die Doping- und Drogenopfer sind Legion. Und wenn letzteres zumindest Skandale und Strafverfolgung auslöst, so ist ersteres "einfach Schicksal", wie Cassani es formulierte. Ein Schicksal, das jeden treffen kann. Die Radsportlegenden Fausto Coppi und Gino Bartali verloren ihre Brüder als Opfer von Straßenrennen, Italiens Olympiasieger Fabio Casartelli stürzte 1995 tödlich bei der Tour de France. Wer mit 80 Kilometern pro Stunde mit dem Kopf voran gegen einen Betonpfeiler prallt, hat keine Chance. 2011, beim Giro, den Contador als Erster beendete und Scarponi gewann, starb der Belgier Wouter Weylandt nach einem Sturz während der Abfahrt vom Bocca-Pass. Danach traf es zehn weitere Radsportler bei offiziellen Rennen, sowie 17 weitere beim Training. Straßenradfahrer, Mountainbiker, Handbiker, allesamt aus der dritten und vierten Reihe.

Doch Michele Scarponi war prominent, deshalb sind jetzt Betroffenheit und Empörung in Italien groß. "Auf unseren Straßen geht es zu wie einst im wilden Westen", kritisierte die Radfahrervereinigung und verwies auf das beschämend winzige Netz von Radwegen im Land. "Wenn ich im Ausland fahre, habe ich nirgends so viel Angst wie in Italien", pflichtete Nationaltrainer Cassani bei: "Ich muss das jetzt einfach sagen, wir Italiener sind die undiszipliniertesten Autofahrer." Im Parlament wird gerade eine Gesetzesvorlage diskutiert, die einen Sicherheitsabstand von 1,5 Metern zum Radfahrer vorschreiben soll. Reine Augenwischerei, klagen die Radverbände, damit solle die Verantwortung von staatlicher Seite auf die Autofahrer abgewälzt werden, anstatt eine bessere und sichere Infrastruktur zu schaffen.

In der Tat hat Italien, Schauplatz des zweitwichtigsten und zweitältesten Straßenradrennens der Welt, seinen Radlern zwar fantastische Kulissen und ein überwiegend mildes Klima zu bieten, doch der Tod lauert quasi hinter jeder Kurve. In den vergangenen zehn Jahren starben 3000 Radfahrer auf den häufig löchrigen und nur notdürftig geflickten Straßen. Im prosperierenden Norden, wo das Gelände flacher ist und das Fahrrad wie anderswo in Europa als normales Verkehrsmittel genutzt wird, gibt es durchaus Radwege. Doch schon in Mittelitalien und erst recht im Süden wird das Rad ganz überwiegend von Sportlern genutzt, die auf der Straße trainieren müssen. Der einzige Radweg in der Hauptstadt Rom ist eine mit Scherben übersäte, von Joggern und Fußgängern systematisch zweckentfremdete Piste entlang des Tibers, die während der Sommermonate überdies mit Gastronomiebuden zugestellt wird. So sind Italiens Radfahrer ständig in Gefahr, ob sie zur Arbeit fahren, zum Vergnügen oder beim Giro. Michele Scarponi hat viel Zeit seines kurzen Lebens auf dem Fahrrad verbracht, und auf dem ist er gestorben.

Ein Arbeitsunfall, ungeschützt, in erster Reihe.

© SZ vom 24.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: