Qualifying in Brasilien:Potenzial für Drama

Der Große Preis von Brasilien ist angerichtet: Lewis Hamilton erobert seine 60. Pole Position, Nico Rosberg startet als erster Verfolger - und beide wollen auf Sieg fahren.

Von Elmar Brümmer, São Paulo

Drittletzte Minute in der Qualifikation zum Großen Preis von Brasilien, Lewis Hamilton rollt unter dem grauen Himmel auf die letzte, entscheidende Runde im Kampf um die Pole-Position. Die ersten beiden Qualifying-Sessions hat der Brite dominiert und auch die erste Ausfahrt im finalen Abschnitt. Die Uhren laufen parallel, Rosberg ist mit einem Tick Abstand rausgefahren - und dabei bleibt es auch am Ende: Beide verbessern sich, die Uhren bleiben bei 1:10,736 und 1:10,838 stehen. Zum elften Mal hat Hamilton damit in diesem Jahr die Pole-Position, es ist die 60. seiner Karriere - der Champion ist im (vor-)entscheidenden Moment in Top-Form. Ein Zehntel, das ist denkbar knapp.

Auf Hamiltons Pokerface erschien ein Schimmer von Zuversicht: "Ich habe mich wohl gefühlt, auch wenn Nico schnell und schneller geworden ist, aber ich hatte immer alles im Griff. Es ist das Beste, was ich erwarten konnte, auf einer Strecke, auf der ich immer Probleme hatte." Rosberg musste nach der Härte des Zweikampfs einsehen: "Es war spannend und sehr eng. Lewis war einen Hauch schneller, weil mir das kleine Bisschen noch gefehlt hat. Aber ich bleibe optimistisch."

Alles andere als ein Drama wäre untypisch im Autodromo Carlos Pace: Sechsmal schon hat sich in Interlagos der Titelkampf in der Formel 1 entschieden, und auch diesmal ist auf der kurzen, aber hügeligen Rennbahn wieder alles auf Spannung programmiert. Die Kandidatenpaarung ist unberechenbar wie die Wetterlage. "Die beiden sind gleichschnell, da entscheidet die kleinste Kleinigkeit", weiß Mercedes-Teamaufsichtsrat Niki Lauda über das Duell zwischen Nico Rosberg und Lewis Hamilton. Lauda hatte den richtigen Riecher, er hatte auf Hamilton gesetzt. Der Brite wurde zwar in Brasilien schon Weltmeister, 2008, aber gewonnen hat er hier noch nie.

Der Deutsche hat bereits seinen zweiten Matchball

Nico Rosberg, der Sieger der beiden vergangenen Jahre, hat es da diesmal vermeintlich leichter, zumindest von der Ausgangslage her: Der Wiesbadener reist mit 19 Punkten Vorsprung an, ihm reichen also sieben Zähler mehr, und er ist zum ersten Mal Champion. Schwer zu sagen, welcher der Mercedes-Fahrer mehr Druck hat: Titelverteidiger Hamilton hat nichts mehr zu verlieren, er ist der geborene Angreifer. Spitzenreiter Rosberg war über das Jahr konstant, wenn er es jetzt nicht schafft, könnte seine Chance auf den Thron so schnell nicht wiederkommen. "Ich fahre auf Sieg", sagt Nico Rosberg vor dem vorletzten WM-Lauf trotzig. Es ist schon sein zweiter Matchball.

Mercedes versucht alles, um dieser Saison ein würdiges (Vor-)Finale zu verschaffen, schließlich hat das Silberpfeil-Team die beiden das ganze Jahr über mit vollem Risiko frei gegeneinander fahren lassen. Motorsportchef Toto Wolff hat nach den Vorkommnissen, Kollisionen und Streitereien vorsichtshalber den Vater von Max Verstappen angerufen, damit dieser beruhigend auf den gelegentlich etwas ungestümen Junior einwirke. Schließlich würde Verstappen, sollte er mit einem Crash die WM entscheiden, seinen Negativruf endgültig zementieren. Wohlgemerkt: Wolff ist ein bekennender Fan Verstappens, hätte am liebsten auch längst eine Option auf den Niederländer, aber dennoch hat sich Red-Bull-Berater Helmut Marko eine derartige Einmischung verbeten, sogar über "Manipulation" geschimpft: "Es wird immer absurder."

Rosberg fühlt sich gelassener als in den vergangenen Jahren

Marko, Österreicher wie Wolff, ist auch besonders empfindlich, weil sein Rennstall den zweiten Platz in der Konstrukteurs-Weltmeisterschaft gegenüber Ferrari verteidigen will. Das ist nicht nur eine Prestigeangelegenheit, sondern auch eine Geldfrage - mit einem Honorarunterschied im zweistelligen Millionenbereich. In der Qualifikation belegten Verstappen und Daniel Ricciardo die Ränge vier und sechs, die Ferrari-Fahrer Kimi Räikkönen und Sebastian Vettel die Plätze drei und fünf. Die versammelte Konkurrenz lag mehr als eine halbe Sekunde hinter den beiden Silberpfeilen, die am Samstag mal wieder in ihrer eigenen Umlaufbahn kreisten.

Nico Rosberg ist schon in Brasilien Weltmeister, wenn...

Gewinnt Nico Rosberg das vorletzte Saisonrennen in São Paulo (13. November), dann ist der Mercedes-Pilot erstmals Formel-1-Weltmeister - unabhängig davon, wie Teamrivale und Titelverteidiger Lewis Hamilton abschneidet.

Bei 19 Punkten Vorsprung auf den Engländer gibt es aber weitere Szenarien, die Rosberg schon in Brasilien seinen ersten Titel bescheren: Nico Rosberg ist schon in Brasilien Weltmeister, wenn...

... er das Rennen gewinnt.

... er Zweiter wird und Hamilton höchstens den vierten Platz holt.

... er Dritter wird und Hamilton höchstens den sechsten Platz holt.

... er Vierter wird und Hamilton höchstens den achten Platz holt.

... er Fünfter wird und Hamilton höchstens den neunten Platz holt.

... er Sechster wird und Hamilton höchstens den zehnten Platz holt.

SID

Der Schlagabtausch zwischen Rosberg und Hamilton ist natürlich auch eine Frage der Psyche, bislang aber ohne Psycho-Spielchen zwischen den beiden. Der Wiesbadener hat die ganze Saison über die Fähigkeit geschult, alles Störende auszublenden: "Vom Gefühl her würde ich sagen, dass diesmal alles viel entspannter ist, viel gelassener." Hamilton macht sich bekanntlich weder über Lebens- noch Fahrstil besonders viel Gedanken, etwas mehr nur über die Technik.

Der Titelverteidiger, der mit zwei Siegen in den vergangenen beiden Rennen noch einmal an den angestrebten WM-Hattrick herangekommen ist, verschwendet keinen Gedanken an eine Niederlage: "Das interessiert mich nicht, ich gucke auf nichts anderes als einen Sieg hier. Mir gefällt diese Herausforderung, sie motiviert mich."

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