Qualifikation für WM in Barcelona:16-Jährige rührt deutschen Schwimm-Verband

Selina Hocke Deutsche Meisterschaften im Schwimmen

Die 16-jährige Rückenschwimmerin Selina Hocke.

(Foto: dpa)

Seit der Misere bei den Olympischen Spielen in London wünschen sich die deutschen Schwimmer mal wieder eine rührende Erfolgsgeschichte. Die 16-jährige Selina Hocke hat sie nun geschrieben. Sie wird bei der Weltmeisterschaft einem stark verjüngten Team angehören.

Von Claudio Catuogno

So viele Fotos auf einmal wurden von der Schwimmerin Selina Hocke noch nie gemacht. Und jetzt heult sie fast auf allen. Schöne, gesunde Tränen waren das allerdings, die sie einfach nicht zurückhalten konnte, nach jedem Überraschungs-Coup aufs Neue nicht, und viele Zuschauer in der Schwimmhalle an der Landsberger Allee haben sich dabei ertappt, dass sie selbst ein bisschen mitschluchzen mussten, wie am Ende eines rührseligen Kinofilms.

Auch Henning Lambertz, der neue Chefbundestrainer, war ganz gerührt angesichts dieses "Sonnenscheinchens", das ihm da zugekrault ist. Rotz und Wasser also, aber das muss man ja auch erst mal verkraften als 16-jährige Schülerin: Da kommt man zu den deutschen Meisterschaften, um sich für die Junioren-WM zu qualifizieren. Und dann verlässt man die Titelkämpfe mit Meistertiteln über 50 und 200 Meter Rücken und Platz zwei über 100 Meter Rücken. Und die WM-Nominierung hat Hocke jetzt auch in der Tasche. Allerdings fährt sie nicht zum Championat der Junioren. Sondern zur richtigen WM.

"Wann ist die genau?", fragte Selina Hocke am Samstag erst mal. Letzte Juli-, erste August-Woche. In Barcelona. Aha. "Schön." Ach was: "Unglaublich!"

Solche Geschichten wollte Henning Lambertz, 42, der gerade vom Amt des Stützpunkttrainers in Essen in die Führungsrolle beim Deutschen Schwimm-Verband (DSV) gewechselt ist. Er hat sie bekommen. Deutsche Meisterschaften samt Qualifikation für die jeweiligen Saison-Höhepunkte - in den letzten Jahren waren das oft freudlose Veranstaltungen gewesen: Im Bemühen, die Zügel anzuziehen und die deutschen Wassersportler auf Augenhöhe mit Amerikanern, Chinesen, Australiern zu zwingen, waren die Qualifikationsnormen des DSV so scharf, dass selbst die Branchengrößen partiell daran verzweifelten - Paul Biedermann, Steffen Deibler, Britta Steffen und andere.

Anti-Doping-Experten protestierten wegen der fatalen Signalwirkung. Für junge Leute wie Selina Hocke waren die Normen schlicht Fabelzeiten. Und Lambertz kann heute noch eine Menge Namen vergessener Talente aufzählen, die ihm an der Schwelle zwischen Junioren- und Erwachsenen-Sport verloren gingen, weil ihnen der Sprung in die Nationalmannschaft unerreichbar erschien.

Henning Lambertz hat deshalb eine Menge auf den Kopf gestellt im Jahr nach London 2012, begleitet von einem DSV-Leistungssportbetrieb, der nach der Horror-Bilanz bei den Olympischen Spielen (null Medaillen) die Kraft aufbrachte für Veränderungen. Die WM-Normen wurden "modifiziert", wie es Leistungssport-Chef Lutz Buschkow gerne nennt, weil jetzt auch schon in den Vorläufen bestimmte Zeiten erreicht werden müssen als Maßnahme gegen das Bummeln am Morgen.

Deiblers Rekordzeit

Insgesamt wurden die Normen aber deutlich entschärft. Motivieren statt drohen ist nun das Motto, das kommt erst mal gut an. "Du rockst!", schrieb die Mannschaftssprecherin Dorothea Brandt aus Essen - eine der prägenden Athletinnen der DM mit gelöstem WM-Ticket über 50 Meter Freistil, Schmetterling und Brust - in einer Mail an Lambertz nach dessen erstem Rundbrief an die Athleten. Und beim Schwimmklub SwC Berlin studierte der Trainer Harald Gampe die modifizierten Normzeiten: 2:11,09 Minuten über 200 Meter Rücken. "Ein bisschen habe ich schon spekuliert, dass Selina das schaffen kann."

Die Schwimm-Welt ist einfacher geworden mit den entschärften Normen, aber für die Etablierten auch komplizierter. Das kann man ebenfalls an Selina Hocke festmachen, die im Finale über 200 Meter Rücken an Jenny Mensing, 27, aus Wiesbaden vorbeizog, einer Institution des nationalen Rücken-Schwimmens, immer dabei, immer konkurrenzlos, aber nie wirklich aufregend.

Für Mensing bedeuteten die niedrigeren Qualifikations-Hürden, dass sie in Berlin nicht in Top-Verfassung sein musste, sondern nur so nebenbei das WM-Ticket lösen - um dann mit Blick auf Barcelona den Formaufbau zu vollenden. Auch das ist ja Teil von Lambertz' Konzept: Die Schwimmer nicht schon bei der DM "auszuquetschen", sondern noch Raum zu lassen für einen Leistungssprung beim Saisonhöhepunkt. Manch einer hat sich da verspekuliert.

Jenny Mensing (2:11,36) zum Beispiel hatte nicht mit dem Schwimm-Küken Selina Hocke (2:10,65) gerechnet und zählt nun zu jenen Athleten, die vom Wohlwollen der WM-Nominierungskommission abhängig sind. Ebenso wie etwa Tim Wallburger und Clemens Rapp, die (in Abwesenheit des Titelträgers Paul Biedermann) das Finale über 400 Meter Freistil "verbadet" haben, wie Buschkow spottete.

Doch auch da wollen sie diesmal nicht allzu streng sein beim DSV, vieles ist ohnehin Momentaufnahme. Die viel zitierte "Aufbruchstimmung" bedeutet ja noch nicht, dass man jetzt schon wieder international konkurrenzfähig ist. Es gab da einige bemerkenswerte Ausreißer nach oben, etwa diverse Spitzenzeiten von Steffen Deibler (Hamburg), der sich über 100 Meter Schmetterling gar an die Spitze der aktuellen Weltrangliste setzte mit deutscher Rekordzeit von 51,19 Sekunden. Christian vom Lehm schwamm die weltweit zweitbeste Zeit des Jahres über 200 Meter Brust: 2:08,81 Sekunden.

Ob sich die langen Zügel insgesamt auszeichnen, wird aber auch Lambertz erst in Barcelona wissen. Dass bei der WM viele DSV-Athleten, anders als noch in London, schneller schwimmen werden als zuvor in Berlin - wahrscheinlich. Dass das dann für viele trotzdem das Aus im Vorlauf bedeuten wird - auch wahrscheinlich. Das Risiko ist für Henning Lambertz dennoch überschaubar. Weniger als null Medaillen kann ja auch der DSV in Barcelona nicht gewinnen.

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