Probleme im US Sport:Es ist absurd, es ist Amerika

Baltimore Ravens at New England Patriots

Harter Sport, doch zu welchem Preis? Danny Woodhead (2. von links) von den New England Patriots durchbricht die Verteidigung.

(Foto: dpa)

Football, Baseball, Eishockey: Die US-Profiligen fesseln ein globales Millionenpublikum. Doch zu welchem Preis? Seit sich mehrere Athleten das Leben nahmen, diskutiert Amerika die Schattenseiten eines neuen Gladiatorentums.

Von Jürgen Schmieder

Madison Square Garden, im November 2010: Die New York Rangers spielen in der Eishockey-Liga NHL gegen die Edmonton Oilers, sie liegen 1:2 zurück. Die Zuschauer hocken muffelig herum und beschweren sich, dass ein Bier neun Dollar kostet. Sie schimpfen über die Rangers und das Leben überhaupt. Dann schickt Rangers-Trainer John Tortella Derek Boogaard aufs Eis. Die Leute springen auf, sie kippen das teure Bier über den Vordermann, sie johlen in Erwartung der Prügelei, die nun bevorsteht. So, wie sie einst in Rom im Kolosseum gejohlt haben, wenn die Gladiatoren einmarschiert sind.

Typen wie Derek Boogard sollen keine Tore schießen. Typen wie ihn nennen sie Enforcer. Vollstrecker. Wenn der Star der eigenen Mannschaft zu hart attackiert wird oder die Partie nicht läuft, kommt der Enforcer. Die Leute wissen: Jetzt kracht es.

Ein paar Minuten später wird die Gier nach Gewalt befriedigt. Der Mensch gewordene Baumstamm Boogard bringt die Mensch gewordene Naturgewalt Steve MacIntyre mit einem rechten Haken zu Fall. Auf dem Fernsehschirm werden wie bei einem Boxkampf Größe, Gewicht und Kampfbilanz der Raufbolde eingeblendet. Weil in der National Hockey League, anders als in Europa, Raufbolde nicht automatisch von der Partie ausgeschlossen, sondern meist nur mit einer Zeitstrafe belegt werden, prügeln sie später wieder. Diesmal bricht MacIntyre Boogards Nase.

Fünf Monate später stirbt Derek Boogaard, 28, an einem Cocktail aus Alkohol und Schmerzmitteln, den er sich selbst verabreicht hat. Vier Monate darauf nimmt sich Rick Rypien, ein 27-jähriger Enforcer, das Leben. Zwei Wochen darauf findet die Polizei den kurz zuvor zurückgetretenen Wade Belak tot in seinem Apartment. Alle drei hatten jahrelang Schmerzmittel genommen, gegen Depressionen gekämpft und über den Verlust des Kurzzeitgedächtnisses geklagt. Die Therapie der Vereinsärzte: Pillen, Pulver und Präparate. Die wahren Symptome bekämpfte niemand. Dass die Athleten langsam starben, während sie für den Kampf gespritzt wurden, das wollte keiner bemerkt haben.

Joanna und Len Boogaard wollen seit einem Interview mit der New York Times nicht mehr mit Journalisten über den Tod ihres Sohnes sprechen. Sie haben die Spielergewerkschaft auf Zahlung von 9,8 Millionen US-Dollar verklagt. Sie hatten das Gehirn ihres Sohnes zur Untersuchung freigegeben und bekamen eindeutige Ergebnisse: Derek Boogaard litt an chronisch traumatischer Enzephalopathie - einer Gehirnkrankheit, die durch Erschütterungen des Kopfes hervorgerufen wird. Durch die geschädigten Nervenstränge werden Zellen in jenen Regionen abgetötet, die für Emotion und Reflexion verantwortlich sind. "Er hatte keine Persönlichkeit mehr", sagt der Enorcer John Scott: "Wer ihn ansah, sah nur noch ein leeres Gesicht." Als Boogaard 2009 von einem Arzt untersucht und aufgefordert wurde, Wörter mit dem Anfangsbuchstaben "R" zu nennen, fiel ihm keines ein. Er trank, nahm bis zu 31 Tabletten am Tag und prügelte sich auf dem Spielfeld.

Das Kolosseum johlte.

Die großen Profi-Ligen in den USA vermarkten sich als Unterhaltungsbetriebe, deren Klubs in mondänen Arenen spielen, das Publikum faszinieren und sehr viel Geld verdienen. Die NHL setzt pro Saison 3,4 Milliarden US-Dollar um, die National Basketball Association (NBA) fünf Milliarden, die Major League Baseball (MLB) 7,5 Milliarden und die National Football League (NFL) gar 9,5 Milliarden. Auf der Forbes-Liste der 50 wertvollsten Sportvereine stehen 39 amerikanische Klubs.

Doch die Probleme sind nicht länger zu tarnen: Athleten erleiden Kopfverletzungen, sie werden depressiv und aggressiv und zu einer Gefahr für sich und andere, sie schütten nicht nur Testosteron aus, viele stopfen auch jede Menge davon in ihren Körper hinein. Trainer setzen Kopfgeld auf gegnerische Spieler aus. Viele Vereine sind pleite und werden verschachert.

Schwere Hinschäden

Ann McLee ist Direktorin des Center for the Study of Traumatic Encephalopathy, das 2008 gegründet wurde, sie versucht herauszufinden, was mit dem Gehirn eines Menschen passiert, der fast jeden Tag mit einem anderen zusammenkracht, weil er einem Ball oder einem Puck hinterherjagt. Ihre Studien zeigen: So ein Gehirn kann aus einem netten Menschen einen bösen machen. "Wenn man ein Gehirn sieht, das kaputt ist, dann trifft das einen", sagte sie dem Magazin Grantland, "man sieht Löcher, wo keine hingehören. Man sieht, dass einige Abschnitte kaputt sind. Man sieht, dass das ganze Ding kleiner ist."

Was sie noch sah: Bei 80 Prozent der Gehirne von Footballspielern, die sie untersuchte, stimmte was nicht. Liegt das am Sport? Mangelt es an der Ausrüstung? Sind die Regeln zu lasch? Als sie ihre Studien veröffentlichte, wurde sie beschimpft als jemand, der den Sport töten wolle.

Eric Winston ist Footballspieler. Er ist keiner, mit dem geworben wird. Er rauft, um den Quarterback, den Spielmacher, zu beschützen. Im Oktober 2012 war Winston kein guter Beschützer: Sein Quarterback verletzte sich, das Publikum johlte. Nach der Partie klagte Winston: "Wir sind keine Gladiatoren, das hier ist nicht das Kolosseum in Rom. Es ist ein Spiel! Ich habe mittlerweile verstanden, dass ich wahrscheinlich nicht sehr lange leben werde, weil ich dieses Spiel spiele." Am Saisonende wurde er trotz eines Vier-Jahres-Vertrages von den Kansas City Chiefs entlassen.

Acht Wochen nach Winstons Worten erschoss sein Teamkollege Jovan Belcher zuerst seine Freundin Kasandra Perkins und dann sich selbst. Belcher litt an Depressionen, klagte über Gedächtnisverlust, er habe exzessiv Schmerzmittel genommen, hieß es. Eine Analyse seines Gehirns steht noch aus. Das Gehirn von Junior Seau dagegen wurde bereits untersucht. Der Verteidiger, der 20 Jahre in der NFL gespielt hat, schoss sich im Mai 2012 in die Brust. "Er war ein großartiger Mann", sagt seine Frau Gina. Kurz vor dem Suizid habe er ihr eine SMS ("Ich liebe Dich") geschrieben. Man solle ihn in Erinnerung behalten, wie er gelebt habe - nicht, wie er gestorben sei.

Gina Seau hat sein Gehirn zur Untersuchung freigegeben. Es wies starke Schädigungen auf, zurückzuführen auf die ständigen Zusammenstöße. Junior Seau machte seine Schmerzen mit Spritzen erträglicher. Manchmal wollen Sportler gar nicht besser spielen. Sondern einfach nur, dass die Schmerzen aufhören.

Cincinnati, im August 2009: Der Baseballspieler Bronson Arroyo zeigt einem Journalisten der USA Today seinen Medizinschrank. Es purzeln Pillen und Pülverchen heraus, die "Triflex" heißen oder "xelR8". Allesamt verboten. "Ich nehme zehn bis zwölf verschiedene Mittel pro Tag, an Spieltagen mehr", sagte er, "alle Tests waren bislang negativ." Er sprach offen über seinen pragmatischen Umgang mit Doping: "Glaubst du wirklich, dass sich jemand darum schert, ob Manny Ramirez mit 50 an Nierenversagen stirbt? Die Leute wollen, dass seine Mannschaft gewinnt und fertig."

Immer wieder werden Athleten erwischt, den bislang größten Skandal gab es im Jahr 2003, als prominente US-Sportler wie Baseballer Barry Bonds und die Sprinterin Marion Jones als Kunden des Balco- Labors in Kalifornien identifiziert wurden. Seit 2003 wurden fast 200 Baseballspieler positiv getestet. Das Image der MLB ist deshalb aber noch nicht so mies wie das der Tour de France. Alex Rodriguez zum Beispiel: Jugendliche hängen sich sein Poster weiterhin ins Zimmer - dabei ist er einer der größten Lügner in der Geschichte des Profisports. 2002 gab er an, nie gedopt zu haben. Als ihm Manipulation nachgewiesen wurde, gestand er die Einnahme leistungsfördernder Mittel von 2001 bis 2003. Seither sei er clean. Tatsächlich?

Miami, im Januar 2013: Die Miami New Times veröffentlicht Dokumente der inzwischen geschlossenen Schönheitsklinik Biogenesis. In denen steht, dass sich der Leiter der Klinik, Anthony Bosch, nicht nur um Faltenreduzierung gekümmert hat. Sondern auch um Muskelwachstum. Neben vielen anderen Sportlern ist auf den handschriftlichen Zetteln als Kunde vermerkt: Alex Rodriguez. Das Dementi folgte sogleich - verschickt im Auftrag von Rodriguez, aber von einer Firma mit dem Schwerpunkt "Krisenmanagement".

Wenn die New York Yankees am Ostermontag ihre neue Baseball-Saison gegen die Boston Red Sox eröffnen, wird Rodriguez nicht mitspielen. Er steht zwar mit umgerechnet 27,5 Millionen Euro auf der Gehaltsliste der Yankees - pro Jahr. Doch er ist wie so oft verletzt. Seine Knochen können die Muskelmasse nicht mehr tragen, womöglich wurden sie auch wegen des Konsums diverser Mittelchen porös. Erst kürzlich wurde Rodriguez mal wieder an der Hüfte operiert, nun ist er untergetaucht. Hat Rodriguez seinen Körper zerstört, um kurzfristig besser zu spielen?

Macht man sich auf die Suche nach den Gründen, warum der amerikanische Sport Probleme hat, stößt man immer wieder auf ein Wort: Dollars. Nicht nur, wenn gerade mal wieder Milliardäre mit Millionären um Tarifverträge schachern: Elf Streiks und Aussperrungen gab es in den vergangenen 20 Jahren, es fielen Spiele und bisweilen die gesamte Saison aus.

Erst die Investition, dann der Sport

Los Angeles, im Januar 2013: Wer abends den Harbor Freeway nach Süden fährt, der sieht das glitzernde Dach des Staples Center. Hier treffen sich die Mächtigen aus den Hollywood Hills, die Verrückten aus Venice Beach und die Lockeren aus Hermosa Beach: bei den Spielen der Lakers und denen der Kings. Beim Basketball oder beim Eishockey. Nun will der Milliardär Philipp Anschutz direkt daneben einen Football-Glaspalast bauen, für 80 000 Zuschauer. Das Problen: In Los Angeles gibt es keinen Footballverein. Aber in den USA ist das kein unlösbares Problem, Vereine werden verhökert wie die Früchte auf dem Farmer's Market von Santa Monica. Es gibt keine Vereinssatzungen, keine Mitgliederversammlungen, kein Verbandswesen. Es gibt Klub-Eigentümer. Und es gibt die Ligen, die die Lizenzen vergeben.

1995 spielten noch zwei Football-Klubs in Los Angeles, dann zogen die Raiders nach Oakland, die Rams nach St. Louis. Es fehlte ein modernes Stadion. In drei Jahren nun soll der neue Prachtbau fertig sein, dann muss nur noch ein Klub hinzugekauft werden. Es gibt bereits Kandidaten.

Es ist, als würde der VfB Stuttgart nach Dortmund umsiedeln, weil der dortige Profiklub seit einiger Zeit in Hamburg spielt. Es ist: absurd. Es ist: Amerika.

Anschutz und die NFL verhandeln seit Monaten. Anschutz sagt: "Ich bin bereit. Wir haben den besten Ort der Welt, die NFL sagt, sie will nach Kalifornien" - und dann sagt er den Satz: "Wenn es ein profitables Investment zu machen gibt, bin ich bereit. Das ist mein Beruf."

Es geht um eine Investition. Und erst dann um Sport. In den vier großen Sportarten gab es seit dem Zweiten Weltkrieg insgesamt 56 Umzüge.

So geht es zu im US-Sport, und der Skandal-Zyklus ist stets gleich: Dem Fall wird ein Name verliehen, der auf -gate endet, etwa "Bountygate", dann treten die Ligabosse vor die Kameras, entschuldigen sich und sprechen von tragischen Einzelfällen. Sie kündigen Strafen und Regeländerungen an, doch eigentlich warten sie nur auf den nächsten Skandal in einer anderen Sportart, damit wieder perfekt geschnittenes Gras über den eigenen wachsen kann.

Der Widerstand gegen die Zustände wächst zwar, die NFL etwa wird gerade von mehr als 4000 Ex-Profis verklagt, es geht um mehrere Milliarden Dollar. Auch die Tarifverträge belegen, dass die Klubbesitzer die Athleten nicht mehr uneingeschränkt wie Gladiatoren behandeln können. Die NFL hat für die kommenden zehn Jahre einen 620 Millionen Dollar schweren Fonds für ehemalige Spieler einrichten und sich verpflichten müssen, die Anzahl der Vollkontakt-Trainingseinheiten deutlich zu reduzieren. In NHL und NBA gibt es neuerdings Rentenpläne, und alle Sportarten sind dabei, ihre Anti-Doping-Politik zu überdenken. Aber auch hier gilt: Es geht um die Glaubwürdigkeit, und damit wieder ums Geld. Es besteht ja doch die Gefahr, dass die Zuschauer umdenken.

Noch aber sind Ticketverkäufe und Einschaltquoten trotz der Skandale herausragend. Das Kolosseum wird besucht, die Fernseher bleiben an. Beschwerde wird geführt, wenn das Bier teurer wird. Und gejohlt, wenn sich die Gladiatoren prügeln.

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