Premier League:Leicester City rettet das Herz des Fußballs

Je vorhersehbarer der Fußball wird, desto dringender braucht er Geschichten wie die unmögliche Meisterschaft von Leicester City.

Kommentar von Martin Schneider

Manche Geschichten sind so groß, dass man die Größten zitieren muss, um sie zu erklären und in Deutschland ist einer der Größten immer noch Sepp Herberger. Sepp Herberger hat nichts mit Leicester City zu tun, oder vielleicht alles. Der Mann aus Mannheim hat Deutschland 1954 als Trainer zum WM-Titel geführt, der heute als "Wunder von Bern" in den Geschichtsbüchern steht. Aber der "Chef" hat dem Fußball auch viele Weisheiten hinterlassen, versteckt in scheinbar banalen Sätzen. Und so sagte Sepp Herberger einst: "Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht."

Dieser Satz ist so großartig, weil man in den vergangenen Jahren immer mal wieder dachte: Jetzt gilt er nicht mehr, jetzt weiß man im Fußball immer, wie es ausgeht, jedenfalls so ungefähr. Jetzt haben das Geld und die Taktik-Strategen den Elf-Freunde-müsst-ihr-sein-Herberger besiegt. Überraschungen schienen ein Relikt aus der Zeit zu sein, als Fußballtrainer noch in Ballonseide, mit Schiebermütze oder mit dem Namen Otto Rehhagel an der Seitenlinie standen. Kaiserslauterns deutsche Meisterschaft als Aufsteiger 1998, Griechenlands Europameisterschaft 2004. Wenn man so will vielleicht noch Portos Champions-League-Triumph 2005. Das waren die letzten prominenten Titelgewinne aus der Kategorie: "Das geht nun wirklich nicht."

Und nun rettet Leicester City den berühmten Herberger-Satz. Alle, die den Fußball lieben, sollten dankbar sein, dass er weiter gilt. Er ist das Herz dieses Sports.

Denn die meisten Leute sind Fans von Vereinen, die niemals etwas gewinnen werden, Fans von Verlierern. All diese Fans können nun über Jahre sagen: Erinnert euch an Leicester City. Sie können raunen: Klar verlieren wir grade im Nieselregen 0:2 gegen den Vorletzten, das Bier ist schal, die Wurst ist schlecht und der teuer eingekaufte Kroate hat gerade die dritte Flanke auf den zweiten Oberrang gebolzt. Aber nächste Saison wird es besser. Leicester ging es auch so, die waren auch Letzter. Dann wurden sie Meister.

Das ist so wichtig, weil Trainer wie Pep Guardiola oder Thomas Tuchel den ganzen Tag daran arbeiten, das Unvorhersehbare vorhersehbar zu machen. Diese Trainer schaffen das in 30 von 34 Saisonspielen auch, sie haben Mannschaften, die teurer sind als die der Konkurrenz und Karl-Heinz Rummenigge forderte unlängst eine Setzliste, weil ihm das mit der Auslosung schon zu viel Zufall ist.

Dabei ist der Fußball schon jetzt vorhersehbar wie nie: Der FC Bayern wird zum vierten Mal in Folge deutscher Meister werden, in Frankreich ist Paris Saint-Germain das Gleiche gelungen, in Italien ist Turin nun fünffacher Seriensieger, in der Schweiz ist der FC Basel zum siebten Mal in Folge Meister geworden. Wie soll man so eine Liga noch ernst nehmen? Wie redet man in der Schweiz vor der Saison beim Pflümli über die anstehende Runde?

Andere Sportarten trifft's da noch härter: Von den vergangenen elf Handballmeisterschaften hat zehn der THW Kiel gewonnen. Klingt nach Dominanz? Lächerlich. Seit 1979 sind die Wasserfreunde Spandau 04 Berlin nur dreimal nicht (!) deutscher Meister im Wasserball geworden.

Fußball ist als Sportart darauf angelegt, Überraschungen zu produzieren

Fußball ist aber von den Spielregeln her darauf angelegt, Überraschungen zu produzieren. Bei keinem anderen Sport zählen Tore verhältnismäßig so viel und sind so schwer zu erzielen. Über ein Handballspiel setzt sich Qualität in den unzähligen Angriffen durch, über eine ganze Saison erst recht. Im Fußball kann man auch als technisch völlig unterlegener Gegner gewinnen, wenn man einen Konter ins Ziel setzt und ansonsten die Bälle hinten rauskloppt.

Genau das war Leicesters Stratgie. Man muss sich nur ein paar Zahlen anschauen, dann erkennt man die kluge Taktik von Leicester-Trainer Claudio Ranieri. Seine Mannschaft spielt die meisten Fehlpässe der ganzen Liga und nur zwei Teams haben seltener den Ball. Gleichzeitig gewann Leicester die meisten Zweikämpfe und hatte die meisten Ballgewinne. Eine Außenseiter-Strategie, die normalerweise niemals eine Saison lang funktioniert. Aber "normal" - dieses Adjektiv gilt ohnehin nicht im Fall von Leicester City.

Es gibt aber zwei Aspekte, die man über diese Sensation nicht gerne liest. Da sind zum einen die Dopingvorwürfe. Nach Informationen von ARD und Sunday Times hat ein Londoner Mediziner gegenüber verdeckten Ermittlern angegeben, dass er mitunter Leicester-Profis mit verbotenen Methoden behandelte. Der Verein bestreitet das vehement.

Und da ist der thailändische Milliardär und Leicester-Besitzer Vichai Srivaddhanaprabha. In England ist es üblich, dass reiche Investoren Vereine unterstützen, um den finanziellen Vorsprung der etablierten Klubs wettzumachen. In Deutschland erlebt man gerade an den Fanprotesten gegen den von Red Bull mit Geld gefluteten RasenBallsport Leipzig, wie sehr dieses Modell hier von einigen abgelehnt wird.

Der Spieleretat von Leicester dürfte trotzdem nach Schätzungen nur bei 57 Millionen Pfund liegen, der von Manchester United lag 2014 bei 220 Millionen Pfund. Leicester bekam vergangene Saison wegen der obszönen Fernsehverträge der Premier League zum Beispiel mehr TV-Geld als Bayern München, aber sie gaben für Transfers zum Beispiel "nur" geschätzt 72 Millionen Euro aus - weniger als Schalke 04.

Wie man es dreht und wendet: Die Meisterschaft von Leicester bleibt eine Unmöglichkeit. Eine unglaublich wichtige Unmöglichkeit. Gerade der durchkapitalisierte Fußball braucht solche Geschichten dringend. Denn wenn Bayern München zum sechsten oder siebten Mal hintereinander deutscher Meister wird, wenn in den kommenden Jahren Madrid, Barcelona oder einer der anderen üblichen Verdächtigen wieder die Champions League gewinnen wird, wenn halt wieder eine Saison oder ein Turnier so ausgeht, wie man das vorher schon prophezeit hat, dann kann man jetzt wieder sagen: Mag alles sein. Aber Leicester wurde damals englischer Meister. Sepp Herbergers Satz gilt weiter.

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