Phantomtor in der Bundesliga:Heilige Tatsachenentscheidung

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Der Fußball-Weltverband Fifa pflegt eine rigide Haltung, was die Revidierung von Schiedsrichterfehlern angeht: Damit es im Fall des Phantomtors von Hoffenheim zu einem Wiederholungsspiel kommt, müsste ein Grundsatzprinzip fallen.

Von Johannes Aumüller und Thomas Kistner

Reflexartig verweisen viele in der Branche nun auf das Frühjahr 1994. Damals schoss Thomas Helmer ein Phantomtor, und es gab kurz danach ein Wiederholungsspiel. Diesmal köpfelte Stefan Kießling ein Phantomtor - dann gibt es halt auch ein Wiederholungsspiel. Nicht wahr? Aber so einfach liegt die Sache nicht.

Obwohl beide Fälle ähnlich aussehen, sind sie sportjuristisch unterschiedlich. Das hat in erster Linie mit dem Verhalten des Fußball-Weltverbandes (Fifa) zu tun, der gemäß Spielordnung bei möglichen Spielwiederholungen die maßgebliche Instanz ist. Für die Fifa aber gibt es kaum etwas Heiligeres als die sogenannte "Tatsachenentscheidung" des Schiedsrichters.

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Die Fifa gewährt ihren Referees päpstliche Befugnisse: Ihr Pfiff gilt, sei er noch so absurd. Was an diesem Wochenende in Hoffenheim passierte, verdeutlicht wieder einmal, dass der Weltverband sich endlich der Einführung des Videobeweises öffnen sollte.

Ein Kommentar von Thomas Kistner

Drei Mal haben die zuständigen Gremien des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in den vergangenen 20 Jahren nach umstrittenen Schiedsrichterentscheidungen befunden, dass eine Partie aus der ersten oder zweiten Liga wiederholt werden muss. Stets war das Argument dafür ein "Regelverstoß" des Referees. Beim Helmer-Tor hatte sich der Schiedsrichter nicht mit seinem Assistenten beraten - der wiederum per Fahnenwink einen Treffer signalisiert hatte, was er seinerzeit laut Regelwerk noch gar nicht durfte. Im Jahr darauf zeigte dann der Unparteiische beim Zweitligaspiel Leipzig gegen Chemnitz einem Spieler Gelb-Rot - und zückte dann, nachdem er festgestellt hatte, dass dieser Spieler noch gar nicht verwarnt worden war, einfach schnell die rote Karte.

Im August 1997 wiederum pfiff der Schiedsrichter beim Bundesligaspiel zwischen 1860 München und dem Karlsruher SC mitten in einem Angriff der Gäste ein Foulspiel der Gastgeber - doch als Sekunden später aus dem Angriff doch noch ein Tor entstand, entschied sich der Schiedsrichter um: Tor!

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Obwohl es in den Urteilen jeweils um Regelverstöße ging, hielt die Fifa stets mit ihrer Tatsachenentscheidung dagegen. Beim Helmer-Tor erkannte der Weltverband die Entscheidung des DFB zähneknirschend an - allerdings erst nach heftigen Disputen und verbunden mit dem unmissverständlichen Hinweis, dass sich so etwas nicht mehr wiederholen dürfe. In den beiden anderen Fällen revidierte die Fifa die Entscheidung des DFB; für den Fall einer Missachtung dieses Votums standen Drohungen wie der Ausschluss von der nächsten Weltmeisterschaft oder ähnlich gravierende sportliche Konsequenzen im Raum.

Im Zuge der Debatten um die Partie 1860 gegen Karlsruhe verschärfte die Fifa zudem noch einmal die entsprechende Formulierung in ihrem Regelwerk. Dort heißt es seitdem: "Entscheide, die ein Schiedsrichter während einer Begegnung fällt und die den Verlauf des Spiels betreffen sowie die Entscheide auf ,Tor' oder ,kein Tor' sind Tatsachenentscheide."

Vom Außennetz ins Tor: Kießlings Schuss beschäftigt die Fußballwelt. (Foto: Simon Hofmann/Getty Images)

Zwar haben nun auch die Hoffenheimer als Protestgrund einen Regelverstoß angegeben: Sie argumentieren, dass der Schiedsrichter nicht auf Tor entscheiden dürfe, wenn Zweifel bestehen, und Schiedsrichter Brych habe selbst Zweifel an seiner Entscheidung bekundet. Aber angesichts der rigiden Haltung der Fifa in den anderen Fällen ist davon auszugehen, dass das Herumargumentieren mit Regelverstößen aussichtslos wäre. Das dürfte auch der DFB, der sich aufgrund der anstehenden Personalwechsel in den zuständigen Rechtsgremien beim Bundestag am Freitag erst in der kommenden Woche mit dem Fall formal beschäftigen kann, so sehen.

Insofern gehen sportjuristische Kreise davon aus, dass nur eine andere, sehr offensive Strategie am Ende ein Wiederholungsspiel bringen könnte - nämlich sich direkt mit dem Grundsatzprinzip der heiligen Tatsachenentscheidung zu befassen. Und daraus folgend mit der Frage, ob es nicht in einer sehr begrenzten Anzahl von Ausnahme-Situationen möglich sein müsse, auch eine Tatsachenentscheidung nachträglich zu revidieren.

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Die Kernfrage lautet demnach: Ab wann ist die Wahrnehmung eines Unparteiischen so offensichtlich falsch und im Ergebnis für alle Beteiligten so unerträglich, dass das Sportrecht eingreifen muss?

Bei einer solchen Strategie könnte man sich sogar auf das Verhalten der Fifa in anderen Fällen berufen. Denn schon seit einiger Zeit ist es üblich, auch von der Fifa akzeptierte Praxis, dass bei falsch zugeteilten roten Karten im Nachhinein das Fernsehbild zu Rate gezogen wird. Wenn also der Spieler A aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers des Schiedsrichters Rot bekommt, obwohl eigentlich Spieler B das Foul begangen hatte, wird Spieler A im Nachhinein nicht gesperrt.

Da drängt sich die Frage auf, ob die Fifa bei vergleichsweise nebensächlichen Angelegenheiten wie der Dauer einer Rotsperre den offenkundigen Irrtum des Schiedsrichters als Revidierungsgrund anerkennen kann - den offenkundigen Irrtum des Schiedsrichters bei der Kernfrage dieses Sports (Tor oder nicht Tor?) aber nicht.

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Sollte es zu einem Wiederholungsspiel kommen, dürfte allerdings ein Vorschlag aus der aktuellen Debatte aussichtslos sein. Die Möglichkeit, dass das Spiel beim Spielstand von 1:0 für Leverkusen in der 70. Minute wieder aufgenommen würde, die gibt das Regelwerk schlicht nicht her.

© SZ vom 21.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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