Pfiffe gegen DFB-Elf:Launischer Vorgeschmack auf die WM

Germany v Chile - International Friendly

Ernüchterung im deutschen Team. Es bleibt offenbar noch viel zu tun bis zur WM in Brasilien

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Darf eine deutsche Elf mit nur einem Tor gegen Chile gewinnen? Nein, findet das Publikum in Stuttgart und pfeift das Löw-Team nach einer holprigen Vorstellung aus. Das nervöse Fußballvolk erwartet von den Feinfüßen überzeugendere Auftritte - und setzt sie vor der WM gewaltig unter Druck.

Von Thomas Hummel, Stuttgart

Oliver Bierhoff kam spät aus dem Kabinentrakt des Stuttgarter Stadions, wie immer im Anzug und auch sonst mit perfektem Äußeren. Der Manager der Nationalmannschaft ist geübt im Präsentieren und Verkaufen. Diesmal aber nahm er keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Kunden. Das Stuttgarter Publikum bekam seine Abreibung.

"Ich habe die Pfiffe nicht verstanden", sagte Bierhoff, "wir haben das Spiel schließlich gewonnen und auch sonst haben die Zuschauer ein gutes Spiel gesehen."

Tatsächlich hat die deutsche Nationalmannschaft das Testspiel gegen Chile mit 1:0 gewonnen. Das Tor hat Mario Götze nach 16 Minuten erzielt. Doch das war nach 93 Minuten vielen zu lange her, als dass es einer Erinnerung wert gewesen wäre. Eine stattliche Anzahl unter den 54.449 Zuschauern setzte nach dem Schlusspfiff zum Pfeifen an, dass es unter dem Stadiondach dröhnte.

Wenn das Publikum bei einem Länderspiel seinen Unmut ausdrückt, ist das immer eine Kontroverse. Einige sehen es wie Bierhoff und ärgern sich. Andere reagieren wie Kapitän Philipp Lahm: "Das muss man verstehen, die Leute zahlen Eintritt, die wollen was sehen und deshalb muss man das einfach akzeptieren."

Da erlebt die deutsche Nationalmannschaft nach einhelliger Meinung aller Experten eine der schönsten Phasen seit ihrer Gründung, sie wirkt wie der Liebling der Nation mit all ihren begabten Feinfüßen. Dennoch schlägt ihr hin und wieder geballter Unmut entgegen. Im März 2011 war Bastian Schweinsteiger vor laufender Kamera fast geplatzt vor Wut, weil in Kaiserslautern nach einem 4:0 gegen Kasachstan die Leute gepfiffen hatten.

Richtig giftig werden die Beteiligten, wenn das Volk einzelne Spieler lautstark kritisiert. Diesmal traf es Mesut Özil. Bei seiner Auswechslung in der 88. Minute erhob sich fast ein Furor. "Schade, dass Mesut ausgepfiffen wird, ich wünsche mir da eine andere Unterstützung", klagte Bierhoff. Jérôme Boateng wurde deutlicher und bezeichnete die Pfiffe gegen den Kollegen als "Frechheit".

Zuversicht in der Expertenrunde

Es ist einerseits verwunderlich, dass ein Publikum, das normalerweise den VfB Stuttgart beim Kicken zusieht, bereits Mitte der zweiten Halbzeit hörbar unzufrieden war. Gegen die enorm lauf- und zweikampfstarken Chilenen hatte die DFB-Elf erhebliche Probleme und benötigte einiges Glück, um das 1:0 bis zum Spielende zu halten.

Andererseits: Was sollen die Leute denken? Ihnen wird allerorten erzählt, ihr Land habe die besten Spieler der Welt. Dann sollen sie auch, verflixt nochmal, Weltmeister werden. Zumindest erst einmal das dünne Land Chile aus dem Stadion schießen.

Zwei Stunden vor dem Anpfiff hatte sich in einem Sponsorenzelt eine dieser Expertenrunden getroffen. Hansi Müller etwa war dabei, der frühere Nationalspieler aus Stuttgart. Die deutsche Mannschaft sei so gut und reichhaltig besetzt wie noch nie in der Geschichte, erklärte er. Giovane Elber, früherer VfB- und Bayern-Stürmer, prophezeite Deutschland als sicheren Weltmeister.

Dabei hatte Bundestrainer Joachim Löw in seiner bald legendären Weckruf-Pressekonferenz doch erklärt, dass Deutschland zwar auf dem Papier eine Top-Mannschaft mit Top-Individualisten habe, das schon. Dies sei auf dem Platz aber derzeit keineswegs Realität. Viele Spieler seien zuletzt verletzt gewesen, einige außer Form, einige fehlen wegen Blessuren immer noch und sind für die WM nicht sicher. Dazu kam ein chilenischer Gegner, der bereits Welt- und Europameister Spanien und auch die Brasilianer am Rand einer Niederlage sowie die Engländer besiegt hatte.

"Wir haben heute gesehen, dass es einige andere Nationen gibt, die hervorragende Fußballer haben", erklärte Löw nach dem Spiel. So oder so ähnlich sagt er das bei praktisch jeder Gelegenheit. Doch will das jemand hören?

Die Reaktion des Publikums war auch Ausdruck einer aufkommenden Nervosität im Fußballvolk. Die jungen Künstler sollen endlich erwachsene Männer werden und ihr Talent dazu nutzen, den großen Titel mit nach Hause zu bringen. Und wenn nun schon die Chilenen besser sind, wie soll das nur werden in Brasilien? So kommt es, dass plötzlich der einstige Fan-Liebling Mesut Özil wegen seiner derzeit leicht melancholischen Aura ausgebuht, während der volksnahe Lukas Podolski, den viele schon abgeschrieben hatten, nach nur einer Aktion mit Sprechchören gefeiert wird.

Der Stuttgarter Abend könnte ein Vorgeschmack darauf gewesen sein, wie stark die deutsche Mannschaft bei der WM unter Druck stehen wird. Joachim Löw wird vermutlich auch aus diesem Grund nicht müde zu erklären, wie groß die Aufgabe für ihn und seine Mannschaft ist.

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