Pferdesport:Nur das nächste Hindernis

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Erfahrung statt Jugend: Weil sich der erst neun Jahre alte Lennox verletzt hat, reitet Michael Jung bei der EM wieder auf seiner bewährten Stute Rocana (hier im Juni in Luhmühlen). (Foto: Martin Rose/Getty Images)

Olympiasieger Michael Jung ist längst der weltbeste Vielseitigkeitsreiter und ein geschickter Manager in eigener Sache. Auch bei der kommenden EM gilt er als der große Favorit.

Von Gabriele Pochhammer, Strzegom

Die überschwänglichen Vorberichte hat er gar nicht gelesen. Sagt Michael Jung zumindest, und da ist wohl auch Koketterie dabei, denn Jung kennt seinen Rang durchaus. Vor Beginn der Europameisterschaft in Strzegom, eine halbe Autostunde von Breslau, würde niemand darauf wetten, dass ein anderer als der 35-Jährige am Sonntag gewinnt.

Es wäre sein vierter EM-Titel nacheinander, diese hätte er dann mit vier verschiedenen Pferden errungen. Das gab es noch nie, und doch wäre es am Ende nur ein weiterer Edelstein in einer Krone, die nie ein Reiter zuvor getragen hat: Zu den EM-Titeln kommen drei olympische Goldmedaillen hinzu, davon zwei in der Einzelwertung, ein Weltmeister-Titel und der Gewinn des Grand Slams 2016.

Schon bei der WM 2014 hat die unscheinbare Stute Rocana gezeigt, was in ihr steckt

Siegen kann irgendwann zur Routine werden, und dadurch werden Seriensieger oft nachlässig, aber bei Jung besteht diese Gefahr wohl nicht. Er nimmt jedes Rennen als neue Herausforderung und lässt die Vergangenheit hinter sich: "Wenn ich losreite, denke ich nicht daran, was ich schon alles gewonnen habe", sagt er. Dann ist er nur auf die Hindernisse fokussiert, die vor ihm liegen. Druck verspürt er also durchaus, aber nur den, den er sich selbst macht. Sein Ziel ist das Optimum - im besten Fall der Sieg, manchmal aber auch der zweite oder dritte Platz, wenn im Reiten mit seinen unvorhersehbaren Umständen nicht mehr zu holen ist. Geärgert hat er sich nur beim CCI in Badminton im Frühjahr, als er im Springen noch den Sieg verspielt hatte. Da hätte er sich bereits zwei Drittel eines neuen Grand Slams sichern können, jetzt muss er in Burghley im September neu anfangen.

In Strzegom sitzt Jung auf der zwölfjährigen Rocana, die im Frühjahr die Vier-Sterne-Prüfung in Kentucky gewonnen hat. Schon bei der Weltmeisterschaft 2014 in Caen hatte die unscheinbare braune Stute gezeigt, dass mehr in ihr steckt, als mancher ihr zutraute. Auch ihren Reiter überzeugte Rocana erst bei der WM in Frankreich, als sie sich unverdrossen über eine Matschpiste kämpfte, auf der andere viel höher eingeschätzte Pferde kläglich versagten. Eigentlich sollte der neunjährige Lennox in Strzegom zeigen, dass er bereits das Zeug für Großes in sich trägt, aber er verletzte sich und verpasst nun die Turniersaison. Dem inzwischen 17-jährigen Olympiasieger Sam mutet Jung keine Championate mehr zu. Er wird für das Vier-Sterne-Event in Burghley im September geschont, wo es nebenbei auch mehr zu gewinnen gibt. Dort siegte Jung 2015 mit einem gebrochenen Bein und wurde eine Woche später auf Takinou in Blair/Schottland Europameister. Zur Siegerehrung war die Queen aus ihrem Sommerquartier Balmoral angereist. Sie gratulierte zum Titel, vor allem aber zum Burghley-Sieg, eine ganze Stufe schwerer. Die Monarchin strahlte, sie war von Jung offenbar beeindruckt.

An Rocana hält er einen Anteil wie an allen seinen Turnierpferden. Er allein entscheidet, wo er die Pferde wann startet. Bevor er ein Pferd ins Training nimmt, muss der Besitzer dieser Regelung zustimmen. "So kann ich ihren Einsatz frei planen," sagt er. Seine schärfsten Konkurrenten in Strzegom sind die eigenen Teamkollegen: Julia Krajewski mit Samourai du Thot, die Siegerin der Vier-Sterne-Prüfung in Luhmühlen 2017; die routinierte Bettina Hoy, Europameisterin schon 1997 und jetzt auch niederländische Nationaltrainerin; sowie Ingrid Klimke, die an zahlreichen Championatssiegen beteiligt war.

Nachdem alle Pferde, auch die der beiden Einzelreiter Kai Rüder und Josefa Sommer, den ersten Tierarzt-Check passiert haben, gehen die Deutschen auch als haushohe Favoriten in die Team-Meisterschaft. "Das kann auch eine Gefahr sein", sagt Andreas Dibowski, der in Strzegom als polnischer Nationaltrainer die Gastgeber betreut. Dabei erinnert er sich an die EM 2009 in Fontainebleau, ein Jahr nach dem Olympiasieg, als von sechs Reitern nur ein einziger ankam - Jung gewann bei seiner Championatspremiere Bronze. "Da hatten wir alle nur die Einzelmedaille vor Augen, die Mannschaft spielte auf einmal keine so große Rolle mehr", sagt Dibowski, damals noch Aktiver. Die Risikofreude zahlte sich nicht aus, fünf schieden aus. So weit soll es diesmal nicht kommen. "Wir wollen den Mannschaftstitel von 2015 verteidigen. Was im Einzel passiert, ist Zusatz", sagt Bundestrainer Hans Melzer. Auch für das Team wäre es das vierte Gold in Serie.

Von den Reitern aus insgesamt 19 Nationen fürchten die Deutschen am ehesten die Konkurrenz aus Frankreich. Zwar fehlen ihn zwei Reiter aus der Rio-Gold-Mannschaft, aber mit dem neunjährigen Upsilon haben sie eine Geheimwaffe im Team. Der angloarabische Schimmel, geritten von Thomas Carlile, gilt als hochbegabt und soll eine sensationelle Dressur gehen. Aber auch er muss auf der Geländestrecke von Strzegom erst zeigen, was wirklich in ihm steckt. Der Cross am Samstag wird nicht leicht, er ist mit drei Sternen bewertet, in der Realität aber nahe an den vier Sternen, so die Ansicht vieler Reiter. Der deutsche Aufbauer Rüdiger Schwarz hat etliche technische Schwierigkeiten eingebaut. Gut für Michael Jung, je schwerer desto besser.

© SZ vom 17.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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