Debatte um Per Mertesacker:Die Fußball-Branche entlarvt sich selbst

Arsenal-Profi Per Mertesacker wärmt sich vor dem Spiel gegen Chelsea London auf.

Per Mertesacker (Mitte) spielt noch diese Saison beim FC Arsenal, danach ist seine aktive Karriere vorbei.

(Foto: REUTERS)

Die Debatte, die Per Mertesacker über den Druck im Profi-Geschäft ausgelöst hat, ist wichtig - denn der Fußball zieht kaum Lehren aus der Vergangenheit.

Kommentar von Thomas Kistner

Wie diese Debatte um Per Mertesackers Attacke auf ein zynisches Profigeschäft wohl im Herbst 2009 verlaufen wäre? Damals sandte der Suizid seines Hannoveraner Klubkollegen Robert Enke Schockwellen durchs Land, die Trauerfeier wurde live übertragen, und DFB-Chef Theo Zwanziger erhielt viel Applaus für solche Sätze: "Denkt nicht nur an den Schein, über die Medien verbreitet. Denkt auch an das, was im Menschen ist. Fußball ist nicht alles!" Oder 2011, als Schiedsrichter Babak Rafati einen Suizidversuch unternahm. "Den Menschen vor das Geschäft und das Resultat" zu stellen, forderte er von der Branche.

Mertesacker hat jetzt dargelegt, wie er selbst seine dunklen Gedanken verdrängte. Dass auch er mit Angstattacken rang, zumal, wenn die ganze Nation auf ihn blickte. Und dass all das Gerede über Menschlichkeit im Fußball hohler Pathos sei. Daher wolle er zum Karriereende junge Talente für die Schattenseite des vermeintlichen Traumberufs sensibilisieren.

Das Echo ist entlarvend - das aus der Branche. Die sieht es eher so wie Lothar Matthäus. Im Sender Sky empfahl der Rekordnationalspieler einfühlsam, Mertesacker hätte ja aufhören können, wenn ihm der Druck zu groß war - dann dieser interessante Satz, der alles sagt: "Wie will er nach diesen Aussagen weiter im Profifußball tätig sein? Wie will er jungen Spielern Professionalität vermitteln, wenn er sagt, dass da zu viel Druck ist? Das geht nicht."

Das geht nicht? Es ist also falsch, junge Leute auf die dunkle Seite des Söldnerjobs vorzubereiten. Besser ist, sie mit diesen absurden Kontoeingängen zu ködern, die dort winken. Vorausgesetzt, man hält Kopf und Knochen noch hin, wenn jeder fürsorgliche Arzt längst abwinken würde.

Mertesacker beklagt die körperliche und mentale Belastung: "Selbst wenn du verletzt bist." Der Nebensatz birgt ein Kernproblem des Jobs. Denn im Fußball geht's fast immer weiter, mit gerissenen Bändern oder perforierten Muskeln. Der Missbrauch von Schmerzmitteln ist so enorm, dass alarmierende Studien dazu flott verschwinden. So, wie die Expertisen zu Gehirnschädigungen, die Profis durch Zehntausende Kopfbälle drohen. Die Gesundheitsversorgung in dieser Branche liegt tiefer im Dunkeln als in jedem anderen Sport. Die Dopingtests sind lächerlich.

Umso auffälliger sind die vielen Wunderheilungen, die für sport-externe Ärzte oft unerklärlich sind. Und Horror-Zahlen, die eine Studie der Spielergewerkschaft Fifpro in elf Ländern offenbarte: 38 Prozent von 607 aktiven Profis litten unter Depression und Angstzuständen; bei 200 befragten Profis im Ruhestand waren es 35 Prozent. Dort überwog der Alkoholmissbrauch (25%) im Vergleich zu den Aktiven (9%). Mentale Erkrankungen unter Fußballern seien "weiter verbreitet als in anderen Gruppen", so der Fifpro-Report.

Die im Schatten haben Probleme, die im Licht weiter Stimme im Betrieb. Mit der sie, gern im prominenten TV-Job, ihr System schützen. Läuft doch alles super, da passt ein Weichei wie Mertesacker als Jugendcoach nicht. Die schillernden Manager und Agenten, die diese Parallelwelt regieren, können sich entspannen; ihre alten Haudegen schließen die Wagenburg.

"Ihr könnt unglaublich viel tun", hatte Zwanziger nach Enkes Tragödie gerufen, "wenn ihr bereit seid, das Kartell der Tabuisierer und Verschweiger einer Gesellschaft zu brechen." Naja. Das war damals.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: