Paralympische Spiele:Wie die Paralympics ein überkommenes Weltbild verändern

Die Paralympics, die heute in London zu Ende gehen, sind ein voller Erfolg: Irgendwas muss passiert sein, dass die Vertreter einer gesellschaftlichen Minderheit plötzlich als Vorbilder dastehen, nachdem sie sich lange als unterschätzt und übersehen vorkommen mussten. Ein bisschen seltsam ist allerdings, dass eine Gesellschaft erst ein Sportfest braucht, ehe sie kapiert, dass auch Menschen mit Behinderung etwas leisten können.

Thomas Hahn

Mehr als 2,7 Millionen Tickets seien vor dem letzten Wochenende der Paralympics verkauft, sagt das Londoner Organisationskomitee. In Großbritannien hatte der privat finanzierte Sender Channel 4 bis zu 15 Prozent Einschaltquote mit seinen Übertragungen von den Weltspielen des Behindertensports, nachdem er sich die TV-Rechte an der Veranstaltung im Bieterstreit mit der BBC für eine nicht genannte Millionensumme gesichert hatte. 150 Stunden Paralympics-Programm im frei empfangbaren Fernsehen wird Channel 4 nach der Schlussfeier am Sonntag abgespult haben.

Paralympische Spiele: Gefeiert: Die deutschen Rollstuhl-Basketballerinnen haben bei den Paralympischen Spielen die Goldmedaille gewonnen.

Gefeiert: Die deutschen Rollstuhl-Basketballerinnen haben bei den Paralympischen Spielen die Goldmedaille gewonnen.

(Foto: AP)

Auch das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen hat seit Beginn der Spiele mehr Sehbehinderten-Judo, Prothesensprint oder Rollstuhlbasketball gezeigt als je zuvor. In der Werbung treten Menschen mit Behinderung als Muster an seelischer und körperlicher Stärke auf, und die britischen Zeitungen waren zuletzt voll mit Hymnen auf Athleten, denen Beine oder Arme fehlen.

Irgendwas muss passiert sein, dass die Vertreter einer gesellschaftlichen Minderheit plötzlich als Vorbilder und Leistungsträger dastehen, nachdem sie sich vor wenigen Jahren noch ständig als unterschätzt und übersehen vorkommen mussten. Mit der Kraft seiner Bilder hat der Sport zumindest in einzelnen Ländern ein neues Bild von Behinderung geprägt.

Ein bisschen seltsam ist es schon, dass eine Gesellschaft erst ein teilweise ziemlich oberflächlich dargebotenes Sportfest sehen muss, ehe sie kapiert, dass auch Menschen mit Behinderung etwas leisten können. Aber da darf man wohl nicht zu wählerisch sein: Die Paralympics verändern überkommene Weltbilder - das ist großartig. Menschen mit Behinderung erregen nun mit ihren Stärken Aufmerksamkeit, nicht mehr mit ihren Schwächen. Sie machen nicht mehr Umstände, sondern gewinnen Medaillen. Das Massenpublikum bekommt ein paar Vorurteile aus dem Kopf geschlagen.

Seit elf Jahren müssen Olympia-Organisatoren auch die Paralympics ausrichten. Wenige Entscheidungen des Internationalen Olympischen Komitees sind derart weitsichtig gewesen wie diese, weil es sich nun keine Olympiastadt mehr leisten kann, Sportler mit Behinderung als Athleten zweiter Klasse zu behandeln. Wenn's ums Geld geht, tun Kaufleute gerne Gutes - und sei es, Sitzvolleyball so zu vermarkten, dass es die Leute wirklich anschauen.

Zu gerührt von sich selbst braucht die Mediengesellschaft allerdings auch nicht zu sein wegen ihrer politisch korrekten Paralympics-Begeisterung. Inklusion, das selbstverständliche Nebeneinander von Menschen mit und ohne Behinderung, ist schließlich nicht schon dadurch erreicht, dass man nach Paralympics-Siegen genauso laut schreit wie nach olympischen Goldgewinnen. Ein großes Sportfest ist immer auch Kulturträger seiner Disziplinen, es soll Zuschauer zum Selbermachen animieren. Aber es kann seine volle Wirkung nur entfalten, wenn es im Alltag, abseits von Kameras und beifallumtoster Elite, genügend Chancen zur Teilhabe gibt.

Für junge Rollstuhlfahrer oder Amputierte ist es teilweise gar nicht so einfach, den paralympischen Vorbildern aus dem Fernsehen nachzueifern. Integrative Schulen brauchen Lösungen für einen Sportunterricht, der Kinder mit Behinderung nicht am Spielfeldrand sitzen lässt. Vereine müssen sich mehr denn je öffnen für einen Nachwuchs, von dem sie bisher dachten, er sei nicht fit genug für ihre Trainingsgruppen.

Eltern müssen verstehen, dass Leistungssport gut ist für Körper und Seele ihrer Kinder. Die Paralympics sind eine Errungenschaft, aber man darf sich von ihren bunten Bildern auch nicht täuschen lassen. Es müssen noch viele Barrieren und Geht-nicht-Gedanken in den Köpfen fallen, bevor die Menschen mit Behinderung ihre ganze Kraft entfalten können.

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