Paralympics:Laufen lernen

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Mit einem neuen Weltrekord gewinnt Vanessa Low im Weitsprung. Nun könnte sie zu den bekanntesten Behindertensportlern der Welt aufsteigen.

Von Ronny Blaschke, Rio de Janeiro

Vanessa Low erinnert sich noch gut an die Nächte im paralympischen Dorf von London. Ständig kamen Sportler lachend nach Hause, an ihrem Hals Medaillen. Low hatte sich auch solche Momente erhofft, sie hatte hart gearbeitet, aber in den entscheidenden Momenten reichte es nicht. In London wurde sie Vierte über 100 Meter, Sechste im Weitsprung. Die Enttäuschung nährte ihre Zweifel. Sie wollte sich eine Pause nehmen, vielleicht gar aufhören mit Leistungssport. Am Wochenende erloschen diese Zweifel. Vanessa Low, 26, gewann paralympisches Gold im Weitsprung der Amputierten. Sie verbesserte ihren eigenen Weltrekord auf 4,93 Meter. "Ich habe das die ganze Zeit genossen, so wie ich es mir vorgenommen hatte." Low war einen Meter weiter gesprungen als 2012 in London. Es muss auch im paralympischen Sport einiges passieren, damit die Leistung um mehr als zwanzig Prozent steigt. Bei Vanessa Low ist einiges passiert. In London teilte sie sich damals ein Zimmer mit Katrin Green, der Goldmedaillengewinnerin von Peking über 200 Meter in der Klasse der einseitig Unterschenkelamputierten. Green erzählte Low von ihrem Trainer, der zugleich ihr Ehemann ist, Roderick Green. Low stellte Fragen. Sie reiste nach Oklahoma, machte sich ein Bild.

Und entschied: Alles auf Anfang in Amerika. In den USA trainierte Low in einer Gruppe mit Sportlern aus dem Basketball und dem American Football. Sie schätzt die vielfältigen Eindrücke. Sie stellte ihre Übungen und ihre Ernährung um, innerhalb von drei Jahren legte sie zwölf Kilo an Muskelmasse zu. 2015 wurde sie Weltmeisterin im Weitsprung, Zweite im Sprint. Zum Dank möchte sie sich nun ein Tattoo stechen lassen, das die Unterschrift ihres Trainers zeigt: "Er hat mir gezeigt, wie ich an mich selbst glaube", sagt sie.

Neuanfang. Dieser Begriff zieht sich durch das Leben von Vanessa Low. Mit 15 wurde sie in Ratzeburg vor einen einfahrenden Zug gestoßen und verlor beide Beine. Das Gedränge am Bahnsteig war groß, vielleicht hatte es auch jemand auf sie abgesehen, ein Täter wurde nie gefasst. Sie lag acht Wochen im Koma, erhielt Prothesen. Früher hatte sie Handball gespielt, fuhr Snowboard, machte Langstreckenläufe. Sie wollte nun weiter Sport treiben, klar.

Vanessa Low dachte, sie müsse sich nur ihre künstlichen Beine anlegen. Doch dann begann die härteste aller Phasen. Zwei Jahre lang besuchte sie die Gehschule, fünf oder sechs Mal die Woche. 100 Meter, immer geradeaus, das fiel ihr gar nicht so schwer. Aber verlässliches Gehen? Mit Aufstehen, Hinsetzen, mit Treppen und Hügeln, dafür brauchte sie eine Weile. Irgendwann ging es, aber das reichte ihr nicht. Sie wollte schneller werden. In einer Trainingseinheit stürzte sie 35 Mal. Sie brach sich den Arm, den Ellbogen, zog sich Schürfwunden zu. Sie überlegte, die Karriere zu beenden, bevor diese richtig begonnen hatte. Es gibt heute nur wenige Leichtathletinnen auf dem Niveau von Vanessa Low, die auf zwei Prothesen aktiv sind, die große Mehrheit hat ein gesundes Bein. Low trainiert besonders ihre Muskeln in Rücken und Rumpf, damit ihr Schwerpunkt nicht aus dem Gleichgewicht gerät.

Vanessa Low hat die Chance, zu den bekanntesten Behindertensportlern Deutschland aufzusteigen. Sie hat stets auch über den Schatten gesprochen, nicht nur über das Licht. Im Mai waren ihre Prothesen abhanden gekommen, "meine Rennbeine sind gestohlen worden", schrieb sie auf Facebook. "Bitte helft mir, sie zu finden oder zu ersetzen." Am nächsten Tag wurden die Prothesen zurückgegeben. Vor Kurzem litt sie an einer bakteriellen Infektion am Bauch. Sie wurde operiert, aber der Wettkampf litt nicht darunter.

Kommenden Samstag kann Low auch über 100 Meter ihre Enttäuschung von London tilgen. Sie genießt die Zeit in Rio, sie fühlt sich entspannt, so sehr, dass sie sich nach ihrem Goldsprung ein bisschen fahrig bei der Hymne verhaspelte. "Von mir ist so viel Druck abgefallen", sagt sie. "Ich bin für den Sport in die USA gezogen, weit weg von meinen Eltern." Im Herbst zieht sie nach Australien zu ihrem Freund. Mit ihrem Trainer bleibt sie in Kontakt. Auch in Rio, da spielt Roderick Green für die USA im Sitzvolleyball.

Im Mai wurden ihr die Prothesen gestohlen - und am nächsten Tag zurückgebracht. Jetzt trugen sie Vanessa Low zu Gold. (Foto: Al Tielemans/AP)
© SZ vom 12.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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