Paralympics in Russland:Barrierefrei zu Gold

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Lieblinge des heimischen Publikums: Russlands Mannschaft im Schlittenhockey. (Foto: dpa)

Bei den Paralympics in Sotschi feiert das russische Publikum mit Hingabe seine Medaillengewinner. Deren Erfolge stehen sinnbildlich für den Wandel in der Gesellschaft - denn noch in den Neunzigerjahren existierten Menschen mit Behinderung quasi nicht.

Von Thomas Hahn, Sotschi

Wieder fliegen die weißblauroten Fahnen, wieder tanzen die Russen auf den vollen Tribünen der Schaiba. Denn auf dem Eis zerlegen die heimischen Schlittenhockey-Spieler gerade die Italiener, Tor um Tor. 3:0, 4:0, 5:0. Nach zwei Dritteln ist alles klar, ehe Andrej Dwinjaninow mit der linken Vorhand seinen dritten Treffer erzielt und der Puck nach Ilja Wolkows Schuss vom Schlitten Gianluigi Rosas zum 7:0-Endstand ins Netz prallt.

Die Arena bebt vor russischer Seligkeit, und noch mal wird die Freude laut, als die Schlusssirene ertönt. Die Männer in den roten Hemden fahren in den Mittelkreis und jubeln zurück. Aus den Lautsprechern singt U2 "What a beautiful day". Und dann gehen die Russen zufrieden nach Hause. Tatsächlich: Was für ein wunderschöner Tag bei den Paralympics von Sotschi.

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Die russische Begeisterung wird ganz leicht ganz groß, davon hat der Schweizer Snowboard-Olympiasieger Iouri Podladtchikov schon vor den Olympischen Spielen erzählt, denen nun die Weltspiele des Behindertensports folgen. Podladtchikov ist in Russland geboren, er versteht die Menschen dort, und er mag es, wie sie sich manchmal ganz auf die Seite ihrer Landsleute stellen. Die Schweizer kommen ihm zuweilen etwas zu kühl vor mit ihrer neutralen Höflichkeit, die Russen hingegen verteilen ihre Sympathien ganz klar. Sie sind für die, die ihrem Herzen nah sind, egal ob sie für ein fernes Alpenland starten oder ein Bein zu wenig haben.

"Die Russen sind sehr schnell auch mal Fan von etwas, das nur eine Geschichte hat", sagt Iouri Podladtchikov, "es ist ein anderer Stolz irgendwie." Und diese russische Begeisterungsfähigkeit scheint nun auch die Paralympics zu tragen, die Rekord-Ticketverkäufe verzeichnen und eine sehr innige, freundliche Hingabe für die Heimsportler.

Menschen mit Behinderung scheinen insgesamt einen neuen Stellenwert zu genießen in Russland. Als inspirierende Medaillenbringer sind sie spätestens seit den Spielen in Vancouver 2010 gefeierte Leute. Das Sportministerium leistet sich Staatsparalympier, die wie Profis trainieren, und zahlt üppige Medaillenprämien. Vier Millionen Rubel (80 000 Euro) bringt Paralympics-Gold, 2,5 Millionen Silber, 1,7 Millionen Bronze.

Dazu können Autos, Wohnungen und weiteres Preisgeld von Sponsoren oder Regionalregierungen kommen. Die Folge dieser Politik kann man am Medaillenspiegel ablesen: Vor allem im Loipenzentrum Laura setzt es Erfolg um Erfolg für Russland. Allein am Montag gab es sechs Podestplätze für die Langläufer, schon nach drei Wettkampftagen liegen die Russen fast uneinholbar vorne. Und die Behindertenrechts-Aktivistin Denise Roza hat schon Paralympier auf den Hochglanzseiten russischer Populärmagazine gesehen. "Menschen mit Behinderung sind ein cooles Thema geworden", sagt sie.

Das allein würde sie allerdings nicht beeindrucken. Denise Roza ist einigermaßen unverdächtig, der russischen Politik Gefälligkeitsgutachten auszustellen. Die Amerikanerin lebt seit 20 Jahren in Russland und hat hier 1997 die unabhängige Behindertenrechts-Organisation Perspektiva gegründet. "Noch in den Neunzigerjahren hatten Menschen mit Behinderung in Russland überhaupt keinen Status", sagt Denise Roza.

Das hat sich geändert. 2012 hat Russland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung unterzeichnet, seit 2013 gibt es eine neue Gesetzgebung, die Kindern mit Behinderung das Recht zuspricht, Regelschulen zu besuchen. Gerade in Moskau hat es Initiativen gegeben, um öffentliche Gebäude und Verkehrsmittel besser zugänglich zu machen für Rollstuhlfahrer oder Blinde.

Die Paralympics-Stadt Sotschi dient der Putin-Regierung als Vorzeige-Projekt in Fragen des behindertenfreundlichen Städtebaus. Und in dieser Hinsicht bekommt der Kulturkreis, zu dem Russland gehört, im jüngsten Report des Experten-Netzwerks Zero Project zur Barriere-Freiheit sogar bessere Noten als die Länder der Europäischen Union: "Zentral- und Ost-Europa ragt heraus mit neu errichteten Gebäuden." Allerdings mag Denise Roza auch nicht den Eindruck erwecken, als wäre Russland ein Paradies. 14 Millionen Menschen mit Behinderung gibt es in dem Riesenland. Deren Situation? "Das ist eine große Frage", sagt Denise Roza. "Es verändert sich viel. Aber es gibt noch viel zu tun."

Immerhin, die Leistungsträger der Paralympia-Klasse zeigen ihren Landsleuten, was mit Behinderung alles geht, und erzählen Geschichten, wie nur sie sie erzählen können. Michail Iwanow zum Beispiel, der russische Schlittenhockey-Torwart. Er hat ein Problem, das weniger mit seinem amputierten Bein zu tun hat. Es hat nicht einmal damit zu tun, dass sein Team an diesem Dienstag gegen die USA die letzte Chance auf den Halbfinal-Einzug wahren muss. Iwanow würde gerne im Feld spielen.

Als er nach seinem Unfall das Hockey-Training im Moskauer Klub Phoenix aufnahm, war er ein bisschen dick. Deshalb stellte der Trainer ihn ins Tor. Er bewährte sich und kommt nun nicht mehr raus. "Ich habe gefragt, ob ich raus kann, aber sie haben mir gesagt: Du bist gut im Tor, bleib' im Tor", sagt Iwanow. "Ich bin kein Fan vom Torwartsein." Er findet die Schlittenhockey-Welt ein bisschen ungerecht. "Der Trainer damals hat mich nie probieren lassen, draußen zu spielen." Und seine Argumente für einen Wechsel sind schlecht. Als Russlands Team bei der WM 2013 in Korea Dritter wurde, wählten ihn die Experten zum besten Torwart des Turniers.

© SZ vom 11.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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