Paralympics 2008:Bis die Hand gehorcht

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Boccia ist Sport für Menschen mit schwer gestörter Motorik - manche bringen es zu unheimlicher Präzision.

Thomas Hahn

Gabriel Shelly aus Kilkenny in Irland sagt gleich, dass er nicht gut reden kann wegen seiner Krämpfe. Er tut es trotzdem, unter Anstrengungen, die größer zu sein scheinen als jene, die ihm gerade sein Sieg in der Vorrunde des paralympischen Boccia-Turniers in Peking abverlangt hat. Seine Gesichtszüge entgleisen, seine Sprache stockt, der ganze Mann vibriert im Kampf mit sich selbst. "Alles kann passieren", sagt Shelly schließlich, inklusive der Wiederholung seines Gold-Gewinns von 2000 in Sydney, und dann zieht er sich wieder in seinen Sport zurück, in dem er es wie wenige Spastiker schafft, seine gestörte Motorik zu zähmen. Er spielt mit ruhiger Hand, tags darauf gewinnt er gegen den Chinesen Wang Yi Bronze mit Würfen, die fast unwirklich präzise sind. Und Jacquie Connolly, seine Trainerin, strahlt. "Das ist wie ein zweites Gold", sagt sie. Gabriel Shelly wird doch bald 40, und der Kampf gegen die Willkür seiner Muskeln ist hart. Er hätte längst aufgeben können.

Simple Mechanik und kunstvolle Berechnung: Grigorios Polychronidis (rechts) beschleunigt die Boccia-Kugel mithilfe eines Kunstarms. (Foto: Foto: AFP)

"Es ist wie Billard"

Es gibt nicht viele Zugänge für Schwerstbehinderte zum Wettkampfsport. Boccia ist einer davon, und so findet in diesen Tagen abseits der gut gefüllten Pekinger Arenen, in denen weltweit gefeierte Paralympier wie die beinamputierte Schwimmerin Natalie du Toit oder der Prothesenläufer Oscar Pistorius schon erste, viel beachtete Auftritte hatten, ein stilles, anfangs etwas irritierendes Turnier statt. Vier Sportklassen gibt es beim Boccia, alle berücksichtigen Athleten mit starken körperlichen Einschränkungen. In zweien davon kommen die Spieler nicht ohne Helfer aus. In einer werfen sie nicht einmal selbst.

Der Athener Rechnungsprüfer Grigorios Polychronidis, 27, ist der Pekinger Silber-Gewinner in dieser Klasse, die unter der Bezeichnung BC3 läuft. Polychronidis hat Muskelschwund, ihm fehlt die Kraft zum Werfen. Er spielt mit einem Betreuer, der laut Regel mit dem Rücken zum Feld sitzen muss. Die Kugeln beschleunigt er über eine röhrenförmige Schiene, die der Betreuer nach seinen Anweisungen verschiebt, verlängert oder verkürzt. Viele seiner Gegner haben Schienen, deren Einfallswinkel sie verstellen können, Polychronidis nicht.

Er beschleunigt die Kugeln nur über die Länge der Schiene, er selbst bringt die Kugel mit einem dünnen Arm in Fahrt, den er an einem Ring an seinem Kopf trägt. Zwischendurch fährt er mit seinem Elektrorollstuhl ins Feld, um sich ein Bild davon zu machen, wie die Kugeln liegen, und berechnet dann, wie er die Schiene justieren lassen muss, damit seine Kugel möglichst nah an die Daube kommt oder eine gegnerische Kugel wegkickt. "Es ist wie Billard", sagt er.

Keine deutsche Boccia-Mannschaft am Start

Für Gabriel Shelly in der Gruppe BC1 ist Boccia dagegen auch ein Kraftsport. Eine frühkindliche Hirnschädigung hat bei ihm die Koordination seiner Muskeln beschädigt. Eine ruhige Hand zu bewahren, ist für Shelly deswegen eine große Anstrengung. "Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem wackeligen Brett", sagt Joan Steele-Mills, die niederländische Chef-Klassifiziererin für Boccia in Peking, "Sie können darauf nicht still halten, aber Sie müssen einen Ball werfen." In zehrenden Trainingseinheiten übt Shelly Positionen, in denen er Herr über die Launen seines Körpers ist. "Man muss wiederholen, wiederholen, wiederholen, so dass der Kopf versucht, den Körper zu kontrollieren", sagt Jacquie Connolly. Viermal pro Woche trainiert Gabriel Shelly neben seinem Verwaltungsjob am Arbeitsamt von Kilkenny.

Manche seiner Konkurrenten trainieren in Förderprogrammen fast professionell. Und wieder kommt den Betreuern eine wichtige Rolle zu. Deren Ruhe verhindert, dass die fragile innere Balance der Sportler durch ein unvorhergesehenes Ereignis plötzlich zusammenbricht. Sie reichen die Kugeln oder legen sie vor den Rollstuhl, wenn die Athleten mit dem Fuß spielen. Teilweise justieren sie sogar ihre Körper. Antonio Marques aus Portugal zum Beispiel, Silber-Gewinner hinter Landsmann Joao Paulo Fernandes, muss sich vor jedem Wurf von seinem Helfer eine Pforte an seinem Rollstuhl öffnen und seinen Oberkörper nach vorne klappen lassen. Und nach dem Wurf wieder nach hinten, was der Betreuer nach guten Würfen mit ziemlicher Verve tut.

Es gibt keine deutsche Boccia-Mannschaft. Ausgerechnet der stolze deutsche Sozialstaat bietet keine Schwerstbehinderten auf? "Komisch", findet Jacquie Connolly das, "schade" Helena Bastos, die Cheftrainerin der Portugiesen: "Dabei haben wir den Deutschen Hilfe angeboten." Scheuen sie etwa die Ästhetik der Schwerstbehinderten? Das bestreitet der deutsche Chef de Mission Karl Quade natürlich und verweist auf die mangelnde Boccia-Tradition daheim. Der Aufbau eines Teams sei geplant. Aber der Weg ist lang, bis die Kugeln richtig fallen. Shelly spielt seit 24 Jahren, und er hat immer noch viel zu tun damit, eine ruhige Hand zu bewahren.

© SZ vom 10.09.2008/mb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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