Olympische Spiele in Rio 2016:Im ewigen Ausnahmezustand

Olympische Spiele in Rio 2016: Baustelle für die Herren der Ringe: Vogelperspektive auf das Gelände der ehemaligen Rennstrecke Autódromo Jacarepaguá in Rio, wo das olympische Dorf entstehen soll

Baustelle für die Herren der Ringe: Vogelperspektive auf das Gelände der ehemaligen Rennstrecke Autódromo Jacarepaguá in Rio, wo das olympische Dorf entstehen soll

(Foto: AFP)

Die Fußball-WM ist vorbei, jetzt erwartet Rio de Janeiro der eigentliche Härtetest: Die Olympischen Spiele 2016. Von den Sportstätten ist kaum eine fertig. Diesmal geht es an Rios Struktur, manche sagen: an Rios Seele.

Von Peter Burghardt, Rio de Janeiro

Die Tage danach waren wie Kehraus in Rio de Janeiro, wie der Kater nach Karneval. Putzkolonnen säuberten die Avenida Atlântica von Copacabana, und die Fifa baute ihre Leinwand am Strand ab. Ein paar selige Deutsche zogen mit weißen und rotschwarzen Trikots durch die Straßen, manche hatten einen goldigen Plastikpokal in der Hand.

Auf den Bildschirmen der Kneipen lief ein paar weitere Male dieses Tor von Mario Götze, der wichtigste und letzte Treffer der WM. Jetzt zeigt das Fernsehen wieder brasilianische Liga, Alltag vor halb leeren Tribünen. Argentinier packten ihre himmelblauweißen Dressen und Fahnen ein, Zehntausende von ihnen verschwanden in Flugzeugen, Bussen und Autos. Das war's mit A Copa, der WM. Até logo, Rio, bis dann.

Zurück blieb an der Uferpromenade die gebogene Standuhr des verstorbenen Architekten Óscar Niemeyer, die Tage, Stunden, Minuten und Sekunden bis zum WM-Start rückwärts gezählt hatte und zum Anpfiff am 12. Juni bei 0 stehen geblieben war. Ein Monument der zerronnenen Zeit, es ging alles so schnell vorbei.

Deutschlands Triumph, Argentiniens Trauer, Brasiliens Debakel. Den allermeisten Gästen gefielen die fünf Wochen, nicht zuletzt Rio kam glänzend an. Und die Cariocas, Rios Einwohner, können jetzt eine neue Uhr aufstellen, denn ab 5. August 2016 steht der nächste Höhepunkt an: Olympia, die ersten Sommerspiele Südamerikas. Der wahre Härtetest für die Cidade Maravilhosa, die wunderbare und geplagte Stadt.

744 Tage waren es am Donnerstag noch bis zur Eröffnungsfeier im Maracanã, das klingt nach Jumbo und ist trotzdem so gut wie nichts. Die einen betrachten die Nähe als Bedrohung, die anderen freuen sich darauf, seit Jahren wird die Siedlung unter Corcovado und Zuckerhut von einem Gipfel nach dem anderen heimgesucht. Rio+20, Konföderationen-Pokal, Papst-Besuch und Weltjugendtag, Fußball-WM, Olympische Spiele, Paralympics. Einem Teil der sechs Millionen Einheimischen Rios und zwölf Millionen Menschen des Großraums gefällt das, weil hier nie zuvor so gute Geschäfte zu machen waren.

Der Mehrheit geht der chronische Ausnahmezustand auf die Nerven. Alles wird teurer, überall wird gebaut, ständig wird demonstriert, immer wieder mischen sich fremde Organisationen ein. UN, Vatikan, Fifa, IOC. Kaum hat man diesen nervigen Fußballweltverband mit seinen absurden Regeln und seinen Funktionären in Fahrzeugkolonnen und im Copacabana Palace überstanden, da steht das Internationale Olympische Komitee ins Haus. Diesmal geht es an Rios Struktur, manche sagen: an Rios Seele.

Fast gar nichts ist fertig

Auf den Plänen sehen die Anlagen unter den fünf Ringen schön aus, unterteilt nach den Zonen Copacabana, Maracanã, Deodoro im Nordwesten und Barra da Tijuca im Südwesten. 36,6 Milliarden Reais sollen die Bauwerke verschlingen, gut zwölf Milliarden Euro. In der Praxis wird es kompliziert, weil noch fast gar nichts fertig ist. Der Olympiapark von Barra da Tijuca ist aus der Luft betrachtet eine dreieckige, weitgehend kahle Riesenbaustelle auf roter Erde, dabei wird 22 Stunden am Tag gewerkelt. Nebenan wehren sich Bürger der Armensiedlung Vila Autódromo gegen Bulldozer und Zwangsumzug, beim Golfplatz in der Nähe gibt es Probleme mit den Umweltbestimmungen.

Die Metrolinie 4 vom Zentrum via dem Edelviertel Gávea nach Barra ist im Verzug, eine Schnellspurverbindung vom internationalen Flughafen ging mehr oder weniger funktionstüchtig in Betrieb. Die erhöhte Stadtautobahn Perimetral wurde vor der WM abgerissen und soll durch einen Tunnel ersetzt werden, bis auf weiteres quält sich der Verkehr durchs Zentrum. In der alten Hafengegend entsteht der Wunderhafen Porto Maravilha, nicht weit vom Morro da Providência, der ersten Favela Brasiliens. Luxus am Rande der Armut.

Von 52 Basisprojekten für die Wettkämpfe in zwei Jahren waren laut des Rechnungshofes Ende Juni erst 24 mit Etat und Fristen definiert. IOC-Vize John Coates nannte die Vorbereitungen der Brasilianer "die schlimmsten", die er je gesehen habe. Zwischendurch hieß es, dass sich das IOC nach einem Ersatzstandort umsehe, aber Coates bedauerte, es gebe leider keinen Plan B. Der Australier schimpfte auf das Durcheinander von Zentralregierung, Bundesstaat und Rathaus. Obendrein habe diese Stadt "soziale Probleme, um die man sich auch kümmern muss".

Die sozialen Probleme sind dem IOC in der Regel nicht so wichtig, Hauptsache es stört niemand die Party. Bei der WM waren so viele Soldaten und Polizisten im Einsatz, dass man sich teilweise eher an einen Polizeistaat erinnert fühlte statt an eine Demokratie, die bald wieder Präsidentschaftswahlen erlebt. In den Favelas wächst der Widerstand gegen die sogenannte Friedenspolizei UPP, und bei Razzien von Uniformierten wird wie gehabt scharf geschossen. Auch bei Protesten greifen die Uniformierten gerne brutal durch, es gab Verhaftungen und Verletzungen. "Protest ist kein Verbrechen", erinnerten kürzlich Aktivisten und forderten die Freilassung eingesperrter Demonstranten.

Schon der Gewalt wegen sind die meisten Brasilianer des Widerstands fürs erste überdrüssig. Und war die WM nicht trotz der vorher schlechten Laune ein Fest? Wurden nicht plötzlich Tore gefeiert statt Kosten und Korruption beklagt? Die WM sei "hervorragend organisiert", lobte IOC-Präsident Thomas Bach. Brasiliens Begeisterung werde auch die Olympischen Spiele in zwei Jahren erfolgreich machen. Allerdings müssen sich da nicht zwölf Städte um 32 Nationalteams und deren Fans kümmern - es geht um eine Stadt samt ein paar Ablegern und um 15 000 Sportler aus fast 200 Ländern in 28 Sportarten mit einem Millionenpublikum. Das Motto: Viva sua Paixão, lebe deine Leidenschaft.

Eine urbane Runderneuerung für gut vier Wochen Sport, Logistik und Improvisation unter Aufsicht des IOC? Die erste Testveranstaltung ereignet sich am 2. August, eine Regatta in der Baía da Guanabara, in der auch bei Olympia gesegelt werden soll. Wer sich die Nase zuhält und nur die Augen aufmacht, der wird begeistert sein, das Ambiente ist fantastisch. Wer tief einatmet, dem kann es leicht schlecht werden, denn die Bucht zwischen Bergen, Küste und Häusern ist eine herrlich gelegene Müllhalde und Kloake.

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