Olympische Spiele in Peking:"Einstein. Newton. Beethoven. Bolt."

Der große Nachbar USA ist abgelöst - Jamaika feiert sich als neues Wunderland des Sprints und führt das auf eine gelungene Talentsuche zurück.

Thomas Hahn

Es ist auch sein Tag, der Tag von Bert Cameron aus Spanish Town. Nach Usain Bolts 200-Meter-Weltrekordlauf steht er in der Interviewzone des Pekinger Nationalstadions mit seiner Jamaika-Kappe auf dem Kopf und spricht in ein stattliches Arsenal von Diktaphonen. Die Leute, die ihn in ihre Mitte genommen haben, kennen ihn gar nicht, er muss sich ihnen als "Jamaikas erster Weltmeister" vorstellen. Aber das ist ihm egal.

Olympische Spiele in Peking: Das fünfte Gold für Jamaika: Veronica Campbell-Brown über 200 Meter.

Das fünfte Gold für Jamaika: Veronica Campbell-Brown über 200 Meter.

(Foto: Foto: dpa)

Warum sollte diese aufgeregte Menge auch wissen, dass er, Cameron, 48 Jahre alt, 1983 in Helsinki Goldgewinner über 400 Meter, selbst eine Art jamaikanischer Held ist? "Wo waren Sie Weltmeister?" ruft jemand. "1983 in Helsinki", sagt Bert Cameron freundlich, und dann schüttet er sein Herz aus, das voller Freude und Stolz ist.

Seine Heimat erstrahlt im Glanze Usain Bolts, des zweifachen Olympiasiegers und Weltrekordlers. "Wir wussten, dass es kommen würde", sagt er, "9,69, 19,30 - und er hatte Spaß dabei." Alle in Jamaika hätten es gesehen, alle, "und wer es nicht gesehen hat, hat es im Radio gehört". Wie es jetzt wohl auf Kingstons Straßen zugehe? Bert Cameron lacht. "Oh mein Gott!"

Das Wunderkind werde die Sprintwelt verändern

Jamaika feiert, die Olympischen Spiele von Peking sind für die Karibik-Insel zu einem Fest geworden. Fünf Goldmedaillen haben ihre Leichtathleten schon erreicht, der große Nachbar USA ist abgelöst als erste Sprintnation. Und Usain Bolt, seit Donnerstag 22, aufgewachsen in Sherwood Content in den Hügeln von Nord-Trelawny als Sohn der Ladenbesitzer Wellesley und Jennifer Bolt, ist Jamaikas Messias, die Erfüllung einer Prophezeiung. Die Nation verfolgt seit Jahren seine Entwicklung. Mit 15 wurde Bolt in Kingston Junioren-Weltmeister über 200 Meter in 20,61 Sekunden, mit 17 rannte er 19,93, und die heimischen Beobachter raunten: Wenn dieses Wunderkind sich nicht verletzt, wird es die Sprintwelt verändern. Prompt moserten sie, als Bolt in seinen ersten Erwachsenen-Jahren mit Blessuren kämpfte und nicht alles niederriss.

Und jetzt ist kein Jamaikaner überrascht von seinen 9,69 Sekunden über 100 Meter sowie seinem 19,30-Sturm, mit dem er den alten 200-Meter-Weltrekord des Amerikaners Michael Johnson von 1996 um zwei Hundertstelsekunden und seine eigene Bestzeit um 37 Zehntelsekunden verbesserte. "Ich denke, es war nicht unerwartet", sagt Stephen Francis lässig, der Trainer von Bolts Staffel-Kollegen Asafa Powell, "es gibt Leute, die sind Ausnahmen, es gibt Einstein, es gibt Isaac Newton. Es gibt Beethoven. Es gibt Usain Bolt."

Bolts Siege sind für seine Landsleute Triumphe der jamaikanischen Leichtigkeit über die Verbissenheit ausländischen Leistungsdenkens. In den vergangenen Jahren haben die Jamaikaner verstanden, dass ihre begabten Kinder nicht unbedingt ins strenge universitäre Sportsystem des großen Nachbarn USA auswandern müssen, um Karriere zu machen. Sondern, dass man in der heimischen Reggae-Kultur genauso gut, auf jeden Fall aber vergnüglicher zum Erfolg kommen kann.

"Einstein. Newton. Beethoven. Bolt."

Usain Bolt ist für sie der Beweis. Nationaltrainer Glen Mills hat ihn in Kingston durch alle Tiefs hindurch zum Durchbruch geleitet. Und Bolt selbst spielt gerne mit dem Bild des karibischen Lebemanns. Seine Gesten vor dem Start, die Fingerzeige in den Himmel, hat er seiner jamaikanischen Art zu tanzen entlehnt. Zu seinem Tagesablauf vor dem 200-Meter-Weltrekord sagte er, er habe bis mittags um zwölf geschlafen und danach wieder ausgiebig Hühner-Nuggets gegessen.

Jamaikas Wirklichkeit prägt natürlich längst nicht nur das sonnige Gemüt seiner Athleten. Das Land plagt eine schwindelnd hohe Kriminalitätsrate, der Drogenhandel ist ein Problem und Menschenrechts-Organisationen beklagen, dass Homosexualität nach dem jamaikanischen Gesetz unter Strafe steht. Immerhin, die Leichtathletik hat sich in Jamaika als Chance etabliert, Jugendliche von der Straße wegzubringen. "Wir haben ein alljährliches Wettkampfsystem für Jugendliche", sagt Herb Elliott, Jamaikas Teamarzt und Vize des Leichtathletikverbands.

Elliott sieht ziemlich geschafft aus, und in seiner Rede schwingt etwas Ungeduld mit. Er hat schon so viel erklärt in den vergangenen Tagen, wann werden die Leute es endlich verstehen? Über die Schulen findet der Verband seine künftigen Spitzensprinter, später fördert sie ein ausgebautes Universitätssystem mit jamaikanisch ausgebildeten Trainern. "Der Verband hat sein Trainingsprogramm vor 25, 30 Jahren begonnen, als viele von uns samstags und sonntags aufs Land fuhren, um Leute im Coaching zu unterrichten", sagt Herb Elliott. Gute Trainer sind für ihn die Grundlage des Erfolgs. "Wir gehen raus, honorieren das Talent der Jugendlichen und lehren sie, richtig zu laufen."

Hoffnung auf weitere Feste

Nur eine unabhängige Antidopingagentur fehlt, wie in den meisten kleinen Ländern, was selbst Lamine Diack, der Präsident des Leichathletik-Weltverbandes IAAF, bedauerlich findet. Auch Jamaikas Athleten seien den strategischen Tests der internationalen Dopingfahndung ausgesetzt, sagt er kraftlos: "Bolt hat dieses Jahr vier Trainingskontrollen gehabt." Aber das Problem bleibt. Diack ruft: "Wir müssen den armen Nationen wie Kenia und Jamaika helfen." Er hoffe auf Besserung in der Zukunft.

In der Gegenwart ist Usain Bolt die weltweite Attraktion seines Sports und Jamaikas Hoffnung auf weitere Feste. Bert Cameron lächelt selig. "Ich weiß, dass er noch schneller laufen kann", sagt er, "ich weiß auch, dass er den 400-Meter-Weltrekord brechen kann, wenn er will." Er merkt gar nicht, welch hohe Erwartungen er da schon wieder aufbaut. Es ist, als solle Usain Bolt für immer schnell sein, aber das kann nicht mal ein Jamaikaner schaffen.

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