Olympische Spiele:Der Forrest Gump des Wassers

Schwimm, Michael, schwimm: Trotz der Zweifel an seinen Höchstleistungen stilisieren Amerikas Medien das Leben des Michael Phelps zu einem Rührstück

Josef Kelnberger

Das ganze Kind war eine einzige lächerliche Erscheinung. Der Oberkörper absurd lang auf viel zu kurzen Beinen. Am ganzen Körper überaus lose Gelenke, weshalb er seltsam schlenkernd durch die Welt lief und immer wieder ohne ersichtlichen Grund hinfiel. Dazu abstehende Ohren, das vorspringende Kinn. Er musste zum Klassenclown werden. Aus dem Schulbus verbannten sie ihn, weil er einen Kumpan verprügelt hatte, der ihn als Big Ear, Langohr, hänselte.

Michael Phelps

Michael Phelps mit den Goldmedaillen eins bis vier.

(Foto: Foto: dpa)

Er konnte während des Unterrichts nicht still sitzen, der Lehrer empfahl der Mutter, einen Arzt zu konsultieren, der Arzt stellte Hyperaktivität fest und verschrieb Ritalin. Darüber waren auch seine beiden Schwestern froh. Die mussten auf den quengelnden Bruder aufpassen, wenn die Mutter, geschieden und alleinerziehend, keine Zeit hatte. Nach zwei Jahren, der Junge war acht, bekam die Mutter ein schlechtes Gewissen wegen der Medikamente. Sie suchte etwas, womit sie ihn beschäftigen konnte. Sie schickte ihn, wie seine beiden Schwestern, zum Schwimmen.

So beginnt die Geschichte des Michael Phelps aus Baltimore, USA. Er ist, so will es Amerika sehen, ein Wiedergänger des Filmhelden Forrest Gump. Lauf, Forrest, lauf, riefen sie, und der Junge lief seiner Beschränktheit davon. Schwimm, Michael, schwimm: Der Junge, der an Land keine zwei Minuten bei einer Sache bleiben konnte, zog gleichmütig Bahn um Bahn. Obwohl er in Mathematik als Niete galt, konnte er mit den Zeiten, die er schwamm, virtuos hantieren. Er wusste sogar ohne Stoppuhr, wie schnell er war; er hatte es im Gefühl.

Im Alter von elf Jahren lernte er dann den Trainer Bob Bowman kennen, den er fortan als Ersatzvater verehrte. Damals erlebte er auch mit, wie seine Schwester Whitney beim Versuch scheiterte, sich für die Olympischen Spiele in Atlanta zu qualifizieren. Da versprach er seiner Mutter, sie werde einmal bei Olympischen Spielen vor Freude über ihn weinen. Man muss das alles wissen, um zu verstehen, warum Phelps in den USA als Volksheld verehrt wird und selbst die Londoner Times den gewagten Satz druckt: "Michael Phelps führt uns vor Augen, warum wir unsere Kinder zum Schwimmen, zur Leichtathletik oder auf das Spielfeld schicken."

Michael Phelps gewann in Peking acht Goldmedaillen. Er übertraf Mark Spitz, der in München 1972 sieben Rennen gewann. Mit insgesamt 14 mal Gold - vor vier Jahren in Athen siegte der Amerikaner bereits sechsmal - nimmt er einen Spitzenplatz im Olymp ein, den ihm wohl niemand mehr streitig machen wird. Er ist ja erst 23 Jahre alt und noch nicht am Ende. Mit der achten Goldmedaille um den Hals, jene für den Sieg in der Lagenstaffel, kletterte er am Sonntag auf die Tribüne der Pekinger Schwimm-Arena, um seine Mutter und seine beiden Schwestern zu umarmen. Sie weinten alle vier.

An dieser Stelle könnte das Publikum in Tränen der Rührung ausbrechen - wenn der Sport seinem Publikum nicht längst die Lust an Rührstücken ausgetrieben hätte. Auf das Thema Doping angesprochen, sagte Michael Phelps am Sonntag, er sei in den vergangen Monaten 40 mal gestestet worden, negativ. Er weiß, dass das heutzutage keinen Sportler entlastet. 25 Weltrekorde wurden in Peking geschwommen. Phelps allein verbesserte sieben.

Es mag gute Gründe geben für die Fortschritte im Schwimmen. Aber in einer derartigen Massierung hat man das noch nicht erlebt. Der Weltrekord wurde zur skurrilen Normalität, genau wie Michael Phelps. Kann ein Schwimmer, der sich auf so hohem Niveau bewegt wie Phelps, noch einmal derart steigern? Und kann ein Mensch ohne illegale Hilfsmittel so schnell regenerieren, wie Phelps es in Peking gelang?

Misstrauen ist angebracht. Allerdings hatte Phelps, selbst falls er gedopt war, noch genügend Gelegenheiten, Fehler zu machen in diesem Dschungel von Vorläufen, Halbfinals, Finals und Siegerehrungen. Er machte keinen. Phelps sagt: "Wenn ich meine Konzentration finde, hält mich nichts und niemand auf." Im Rennen über 200 m Schmetterling lief seine Brille mit Wasser voll, er sah nichts mehr und fand dennoch den Weg zum Sieg. Im Rennen über 100 m Schmetterling lag er über 99,9 Meter hinter dem Serben Milorad Cavic und legte kurz vor dem Ziel instinktiv einen halben Zug ein - gegen jede Regel und doch genau richtig. Der Amerikaner löste mit einem kräftigen Schlag die Zeitnehmung um eine Hundertstel vor Cavic aus, der in die Wand geglitten war, wie das alle Trainer raten. Hätte er an diesem Morgen bloß nicht die Fingernägel geschnitten - er hätte Gold gewonnen, klagte Cavic. Die Geschichte von Michael Phelps musste wohl zu ihrem Happy-End kommen. Irgendein Drehbuch sah das vor.

Alles umkrempeln

Mark Spitz, ausgestattet mit dem amerikanischen Sinn für Pathos, sagt: Wenn er selbst mit seinen sieben Goldmedaillen von München zum Mond gefahren sei, dann sei Phelps nun auf dem Mars gelandet. Er nennt ihn "den größten Wettkämpfer, den es je gegeben hat". Andere nennen Phelps einen der besten Stilisten, die es je gab. US-Trainer sagen, beim Schmetterling-Schwimmen werde sein Rücken niemals nass, so perfekt gleite er durchs Wasser. Vieles an ihm lässt sich nicht kopieren. Sein langer Oberkörper und die kurzen Beine, sein losen Gelenke befähigen ihn zu Bewegungen im Wasser, wie sie niemand sonst beherrscht. Und die abstehenden Ohren? Sind zum Markenzeichen des Mannes geworden, der nun auf dem Mars angelangt ist.

Michael Phelps hat mit Trainer Bob Bowman vereinbart, dass sie demnächst alles umkrempeln, das Training und die Strecken, die er schwimmt. Zunächst aber wolle er zur Ruhe finden. Am Sonntag fing er damit schon an. Was ihm bei den vielen Siegerehrungen durch den Kopf gegangen sei, wurde er gefragt. Er sinnierte lange, dann sagte er: "Zum Beispiel der Lehrer, der mir einmal sagte: Aus dir wird nie etwas." Ob Phelps den Schülern als Vorbild taugt, muss jeder für sich entscheiden.

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