Olympia:Thomas Röhler - plötzlich Führungskraft

Die Goldmedaille für den jungen Speerwerfer überstrahlt die schwache Olympia-Bilanz der Leichtathleten. Er wird dafür belohnt, dass er ab und zu gegen die Lehrmeinung trainiert.

Von Johannes Knuth, Rio de Janeiro

Der Speerwerfer Thomas Röhler war jetzt ganz bei sich. Er war weit weg von den Würfen der anderen, dem Treiben im Olympiastadion, den Erwartungen, die er mit sich herumschleppte. Röhler lag auf der Laufbahn neben der Tribüne, auf die Ellenbogen gestützt, dreißig Meter von der Speerwurfanlage entfernt. Ein bisschen sah er aus wie ein Tourist, der am Strand an der Copacabana auf das bunte Treiben schaute, nur Handtuch und Caipirinha fehlten. "Es ist ziemlich anstrengend da draußen", sagte Röhler später, als er über seinen Ausflug redete: "Ich musste heute bei mir bleiben." Seine ersten Würfe waren gut gewesen, aber nicht gut genug, der Kenianer Julius Yego hatte sich mit 88,24 Metern vor ihn geschoben.

Röhler wanderte noch ein wenig durch seine Gedanken, dachte darüber nach, in welchem Winkel er den Speer gleich in die Nacht von Rio setzen würde. Dann warf er sich zurück in den Wettkampf und schickte seinen Speer auf eine weite Reise, auf 90,30 Meter, zum Olympiasieg.

Das Wichtigste zu Olympia 2016 in Rio

Der letzte Wettkampf im Olympiastadion von Rio de Janeiro hat es noch einmal gut gemeint mit dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV). Die Speerwerfer brachten die Plätze neun durch Julian Weber (81,36), vier durch Johannes Vetter (85,32) und eins in die Wertung. Röhlers Goldmedaille war die erste für die deutschen Speerwerfer seit Klaus Wolfermann 1972. Der späte Glanz überstrahlte die ansonsten durchwachsene Bilanz des DLV. Der Verband hatte sich im vergangenen Jahrzehnt kontinuierlich aus seinem Tief gehoben, Olympia in London hatte gleich acht Plaketten abgeworfen. Diesmal sollten es wenigstens vier werden.

"Die Bilanz kann uns nicht zufriedenstellen"

Aber viele Leistungsträger, die vor vier Jahren auf der Höhe ihrer Schaffenskraft waren, quälten sich zuletzt durch Schmerzen oder Müdigkeit. Nach den Medaillen im Diskuswurf durch Christoph Harting (Gold) und Daniel Jasinski (Bronze) vergaben sie sämtliche Chancen. Bis Röhler kam. "Der Druck hätte heute nicht größer sein können für uns drei", sagte er. Und auch wenn er am Samstag den Hauptpreis davontrug: "Die Bilanz kann uns nicht zufriedenstellen", sagte DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen.

Medaillen seien nicht der Maßstab, hatten sie im DLV vor Rio ausgerufen, die Athleten sollten lieber ihre beste Leistung der Saison schaffen. Diesem Auftrag kam nur eine Minderheit nach. Etwas mehr als die Hälfte der deutschen Athleten schnitten schlechter ab als bei der EM in Amsterdam vor einem Monat. Kurschilgen zitierte Verletzungsprobleme, die Branchenführern wie Christina Schwanitz, David Storl und Robert Harting zu schaffen gemacht hatten. Er verwies auf das Trainingslager in Brasilia, das sie wieder absagten, wegen der Zika-Gefahr. Die meisten Athleten reisten erst fünf, sechs Tage vor ihren Wettkämpfen nach Rio.

"Das Zeitfenster für den weiteren Formaufbau nach Amsterdam gestaltete sich durch die Notwendigkeit der Zeitzonenanpassung etwas anders als in 2012", sagte Kurschilgen. Die Speerwerferinnen waren in ein Leistungstief gerutscht, sie hatten sich im internen Ringen um die drei Startplätze aufgerieben, bis in den Gerichtssaal hinein. DLV-Präsident Clemens Prokop verkündete noch in Rio, den Leistungssportbereich demnächst umzubauen, zu prüfen, welche Trainerverträge man verlängere, welche nicht. Um "Reibungsverluste zu verhindern", teilte er mit. Die Reform "wurde bereits vor den Olympischen Spielen ins Auge gefasst und erscheint mir unverändert erforderlich".

Röhlers Kraftwerk sind die Beine

Drei über 90 Meter

Nachdem Uwe Hohn (Neuruppin) im Juli 1984 in Ost-Berlin den Speer auf 104,80 Meter wuchtete, wurde das Wurfgerät geändert. Seitdem gelang es 15 Männern, die 90-Meter-Marke zu überbieten, darunter die Deutschen Boris Henry und Thomas Röhler. Den Weltrekord hält seit 1996 der Tscheche Jan Zelezny mit 98,48 Metern.

Bei Olympia übertrafen aber nur drei Werfer die 90 Meter. Die Top Ten der weitesten Würfe bei Olympischen Spielen mit dem neuen Speer:

1. Andreas Thorkildsen (Norweg.) (2008) 90,57

2. Thomas Röhler (Jena) (2016) 90,30

3. Jan Zelezny (Tschechien) (2000) 90,17

4. Steve Backley (Großbritannien) (2000) 89,85

5. Jan Zelezny (Tschechien) (1992) 89,66

6. Sergej Makarow (Russland) (2000) 88,67

7. Julis Yego (Kenia) (2016) 88,24

8. Jan Zelezny (Tschechien) (1996) 88,16

9. Raymond Hecht (Magdeburg) (2000) 87,76

10. Steve Backley (Großbritannien) (1996) 87,44

Die Arrivierten brachten aus Rio letztlich wenige Souvenirs mit, doch neben der Mannschaft fürs Jetzt versammelte sich in Rio auch die Auswahl für Morgen und Übermorgen geballt neben dem Podest. Weitspringerin Malaika Mihambo, Zehnkämpfer Kai Kazmirek, die deutsche 4x100-Meter-Staffel der Frauen - "das waren richtig geile vierte Plätze", fand Röhler. Und da war natürlich Röhler selbst, 24, der in den vergangenen Jahren nicht nur zum Olympiasieger, sondern zur Führungskraft der deutschen Leichtathletik aufgestiegen ist.

Röhler gewann vor vier Jahren seinen ersten Titel bei den Erwachsenen, "aber da gab es mich eigentlich noch gar nicht auf der größeren Bühne", hat er neulich gesagt, "in dem Schatten konnte ich mich angenehm entwickeln." Er wanderte mit seinem Trainer Harro Schwuchow jenseits der bekannten Pfade. Er ist kein Kraftpaket mit seinen 92 Kilogramm Wettkampfgewicht; sein Kraftwerk sind die Beine, die Schnelligkeit und Sprungkraft, die er aus seiner Zeit als Dreispringer hat. Von den Beinen fließt die Kraft durch den Körper in den Speer. Sie haben das Krafttraining vor drei Jahren "komplett umgestellt", erzählte Schwuchow, haben das Bankdrücken verbannt, dafür Übungen eingebaut, die den ganzen Körper schulen: Hürdenläufe, um den Rhythmus beim Anlauf zu festigen, Sprünge, Hochsprünge, Turnen fürs Gleichgewicht.

"Wir sind ja nicht ganz unerfolgreich damit", findet Schwuchow.

Röhler will sich nicht verändern

Stillstand, hat Thomas Röhler neulich gesagt "wollen wir nicht haben." Er reist immer wieder nach Finnland, um sich bei den Branchenführern des Speerwurfs fortzubilden. "Thomas ist ein sehr bodenständiger, cleverer, aufgeschlossener, neugieriger Sportler, der sich auf viel Neues einlässt", bestätigt Schwuchow. Er ist, bei allen Fortbildungen, seinem Heimatverein LC Jena treu geblieben; sie haben zuletzt nach Sponsoren gefahndet, um in Jena um ihn herum ein kleines Speerwurfbiotop zu kultivieren. "Wir haben uns das schon etwas einfacher vorgestellt", sagt Schwuchow. Ein Olympiasieg dürfte die Verhandlungsbasis aber nicht gerade verschlechtern.

"Ich bin selber gespannt, was sich jetzt verändert", hat Thomas Röhler in Rio noch gesagt. Eines wisse er aber schon jetzt: "An meiner Person wird sich nichts ändern." Er will bei sich bleiben.

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