Deutsche Turnerinnen:Süße Tränen, bittere Tränen

Deutsche Turnerinnen: 33 Tausendstel zwischen Trauer und Freude: Elisabeth Seitz (links) liegt Sophie Scheder im Arm.

33 Tausendstel zwischen Trauer und Freude: Elisabeth Seitz (links) liegt Sophie Scheder im Arm.

(Foto: BEN STANSALL/AFP)

Dramatische Entscheidung im Turnen: Sophie Scheder gewinnt die Bronzemedaille am Stufenbarren, nur 33 Tausendstel vor ihrer Teamkollegin Elisabeth Seitz. Die ist traurig - und sauer.

Von Volker Kreisl, Rio de Janeiro

Die Bundestrainerin stand am Höhepunkt ihrer bisherigen Laufbahn als Coach, Betreuerin, Planerin und Trösterin, und sie wusste zunächst nicht, wie sie diese Situation einschätzen sollte. Ulla Koch wirkte gefasst, war aber innerlich aufgewühlt, dann sagte sie: "Ja, es ist schön, aber auch traurig."

Einen denkwürdigen Nachmittag mit vier hochklassigen und für die Betroffenen teils dramatischen Vorführungen hatte die dreitägige Gerätefinalserie der Turner in Rio eröffnet. Abgeschlossen wird das Ganze am Dienstagabend mit dem Reckfinale und Fabian Hambüchen, aber auf eine Medaille muss der Deutsche Turnerbund nicht mehr bis dahin warten.

Das Wichtigste zu Olympia 2016 in Rio

Sophie Scheder, 19, aus Chemnitz, hatte Bronze am Stufenbarren gewonnen. Ihre besten Ergebnisse waren bisher zwei zweite Plätze bei den Europaspielen in Baku 2015. Nun landete sie hinter der wie immer exzellent und makellos turnenden Goldgewinnerin Aliya Mustafina aus Russland. Zweite wurde Madison Kocian aus den USA, mit einer ähnlich schweren Übung wie Mustafina, aber einer schlechteren Ausführungsnote.

Die Basis des Erfolgs ist eine Reform des Systems

Dritte also Scheder, die für einen Verband antritt, bei dem jeder - die Bundestrainerin, die Teamkolleginnen, die Ärzte, der Pressesprecher, die Angehörigen - eine Weile brauchte um dieses Ergebnis zu verarbeiten und richtig aus sich herauszugehen. Das Problem in diesem Moment war ja auch: Vierte wurde ebenfalls eine Deutsche, Elisabeth Seitz, und zwar mit der Winzigkeit von 33 Tausendstel. Seitz, die als robuste Turnerin bekannt ist, weinte bittere Tränen, und bekannte später, dass sie sich natürlich auch für ihre Kollegin freue. Scheder weinte vor Glück und bekannte, dass sie natürlich auch für ihre Kollegin leide.

Es war die erste Olympia-Medaille für eine aus einem deutschen Turnsystem erwachsenen Turnerin seit Dagmar Kersten in Seoul 1988, seit 38 Jahren, also ausgenommen der Sprung-Silber-Gewinnerin 2008, Oksana Tschussowitina. Nach der Wiedervereinigung hatte zunächst niemand mehr an einen deutschen Frauenerfolg geglaubt, bei der Qualifikation für die Spiele in Sydney, bei der WM 99 in Tianjin, hatten die damals wenig feinfühlenden DTB-Funktionäre die Turnerinnen wegen Olympia-Verpassens noch zusammengestaucht, sodass es auch hier Tränen gab, verbessert hatte sich dadurch natürlich nichts.

Erst als sukzessive ein System mit Talentsichtung, Leistungszentren und intelligenter Arbeit aufgebaut wurde, gab es seit Mitte der Nullerjahre die ersten EM-Medaillen, dann, 2015 in Glasgow, mit Pauline Schäfers Balkenvorführung, die erste WM-Medaille und nun - Olympiabronze.

So viele Gefühlsausbrüche

Natürlich hatte Elisabeth Seitz, die Athletin, die seit fünf Jahren allen anderen vorausturnt, am längsten gebraucht, um sich über diesen Durchbruch am Barren zu freuen. Sie hatte alles richtig gemacht, nur nicht das Wichtigste: Eine Direktverbindung vom Pak-Salto zurück über den unteren auf den oberen Holm. Damit hätte sie Bronze sicher gehabt, aber wegen leicht gespreizter Beine im Flug fehlte das Tempo, und sie musste am Holm nochmal extra Schwung aufnehmen. Sie hatte die Wahl zwischen Sturz oder Platz vier. "Ich freu mich für Sophie, aber jetzt, wo ich runter bin, kommt der Gedanke: Du hast so lange und so hart trainiert, und dass das jetzt nicht funktionierte, das macht mich sauer", sagte sie, und fügte an: "Und traurig."

Der letzte von vielen Gefühlsausbrüchen an diesem Tag

Es war die letzte Übung des Tages, und die Zuschauer hatten schon viele Gefühlsausbrüche bestaunen dürfen. Gold am Boden für den Briten Max Whitlock, Silber und Bronze für die beiden Brasilianer Diego Hypolito und Arthur Mariano, wobei der Zweitplatzierte schon 30 ist und schon fast aus dem Team verdrängt war. Zudem ein hochklassiges Frauensprungfinale, in dem drei Turnerinnen nacheinander an Weltneuheiten scheiterten, ehe die Amerikanerin Simone Biles lächelnd und auch recht lässig mit zwei Supersprüngen und einer Note von 15,966 Punkten alle hinter sich ließ; es war ihr drittes Gold in Rio.

Und schließlich ein britisches Teamduell am Pauschenpferd, wo Louis Smith sich seiner lange ersehnten Goldmedaille schon fast sicher war, die ihm dann aber Bodensieger Whitlock noch wegschnappte. Als Whitlock mit dem Union-Jack um die Schultern bei einem ersten Spontanfeiern Louis Smith mit aufs Podium ziehen wollte, blieb der lieber unten.

Da hatten die beiden deutschen Barrenturnerinnen ihren Konflikt würdevoller gelöst. Sie lagen sich ja bald in den Armen.

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