Olympia:Semenya läuft in der Grauzone

Athletics - Women's 800 meters - Golden Gala IAAF Diamond League - Olympic stadium, Rome, Italy

Silbergewinnerin von 2012 im Formhoch: Caster Semenya.

(Foto: Alessandro Bianchi/Reuters)

Die 800-Meter-Läuferin aus Südafrika hat einen erhöhten Testosteron-Wert und ist vermutlich intersexuell. Mit ihrem Start in Rio rollt auf die Leichtathletik eine komplizierte Debatte zu.

Von Johannes Knuth

Die 800-Meter-Läuferin Caster Semenya hat neulich eine Nachricht an ihre Gefolgschaft im digitalen Netzwerk Twitter abgesetzt: "Sei fröhlich vor deinen Feinden, das können sie nicht ab", schrieb sie. Semenya hatte den Spruch irgendwo in den Weiten des Internets gefunden. Er gefiel ihr.

Die ersten Tage im Leichtathletik-Stadion von Rio de Janeiro haben die Zuschauer durch heiße und kalte Momente geschickt, durch diverse Debatten. Die mächtigste Debatte rollt allerdings noch auf die Wettbewerbe zu. Am Mittwoch wird sie erstmals aufkochen, bei den Vorläufen über 800 Meter der Frauen. Die Südafrikanerin Caster Semenya, 25, wird antreten, angereist mit einer Saisonbestleistung von 1:55.33 Minuten, und wenn sie nicht ausscheidet, was unwahrscheinlich ist, oder sich ihr Athletenshuttle auf dem Weg ins Stadion verfährt, was nicht ganz so unwahrscheinlich ist, wird sie das Finale gewinnen.

Sie wird vielleicht sogar den ältesten Weltrekord der Leichtathletik löschen, die 1:53,28 Minuten, die Jarmila Kratochvílová 1983 für die Tschechoslowakei gelaufen ist. Es ist eine der verseuchtesten Marken der Leichtathletik, aber bei Semenya geht es wohl nicht um Doping, sondern um Gender und Geschlecht, oder: ob und wie man eine Minderheit auf der großen olympischen Bühne eingliedert.

Der Weltleichtathletikverband sperrte Semenya - und ließ sie wieder starten

Es ist eine komplizierte Debatte, in der es kein Schwarz und Weiß gibt, nur viel Grau und viele Vorurteile, die die Szene immer tiefer spalten: in Unterstützer und Gegner, in Freunde und Feinde.

Caster Semenya aus Polokwane, Südafrika, ist vor sieben Jahren in Berlin Weltmeisterin über 800 Meter geworden, in 1:55,45 Minuten. Sie war unbekümmert zu ihrem Sieg gestürmt, drahtig, burschikos, ausgestattet mit einer tiefen Stimme. Danach erschien sie jedoch nicht zur Pressekonferenz; der Weltverband IAAF hatte ihr Geschlecht untersuchen lassen, wie sich später herausstellte. Die Welt rätselte da längst, ob sie eine Frau sei oder ein Mann. Die IAAF sperrte sie, ließ sie dann wieder bei den Frauen starten. Warum, ist bis heute nicht bekannt.

Die australische Zeitung Daily Telegraph zitierte eine angeblich gut informierte Quelle, man habe herausgefunden, dass Semenya intersexuell sei. Aber der Sport kennt diese Kategorien nicht, und deshalb fragt sich die Szene bis heute, mal offener, mal verstohlener: Darf Sie das, bei Frauen starten und gewinnen?

Ein umstrittener Paragraf schrieb einen Höchstwert an Testosteron fest

Die Natur ist vielschichtiger als der Sport, sie trennt nicht in zwei Geschlechter. Es gibt Millionen von Menschen, die irgendwo zwischen diesen Kategorien wandern, Transsexuelle, Intersexuelle. Manche von ihnen produzieren, grob vereinfacht, in ihrem Körper weniger Testosteron als Männer, aber mehr als Frauen. Was ihnen gegenüber Letzteren einen Vorteil verschafft. Viele möchten trotzdem bei den Frauen starten, weil sie sich nun mal als Frauen sehen. Nur: Wie bewahrt man einen Wettbewerb, der zwischen Frau und Mann trennt - ohne die Rechte einer Minderheit zu vergessen, die dazwischen klemmt?

Nachdem Semenya in Berlin Weltmeisterin geworden war, zog die IAAF Experten aus allen Himmelsrichtungen zusammen. 2011 installierten sie den sogenannten Hyperandrogenismus-Paragrafen, das Internationale Olympische Komitee übernahm ihn ein Jahr später. Sie schrieben einen Höchstwert an Testosteron fest, den ein Körper produzieren dürfe. Wer diese Grenze überschritt und bei den Frauen starten wollte, musste sich operieren lassen oder Medikamente nehmen, die den Spiegel drücken. Bis Dutee Chand, eine intersexuelle Sprinterin aus Indien, im vergangenen Juli dagegen klagte, vor dem Sportgerichtshof Cas. Und gewann.

IAAF und IOC müssen bis zum kommenden Jahr neue Beweise zusammentragen, um ihre Geschlechterregel abzusichern. Schaffen sie es nicht, wird sie abgeschafft. Der Paragraf ist bis dahin stillgelegt, die Mauer eingerissen, intersexuelle Athleten müssen sich nicht behandeln lassen und dürfen starten, wo sie wollen. Semenya, deren Leistungen in den vergangenen Jahren ins Mittelmaß gerutscht waren, kletterte plötzlich wieder an die Weltspitze. Wegen einer Knieverletzung, sagt ihr Umfeld, außerdem habe sie davor zu oft an Partys und zu wenig an den Sport gedacht. Semenya sagt dazu: nichts. Aber der Verdacht liegt nahe, dass sie davon profitiert, sich keinen Kuren mehr unterziehen zu müssen.

Das Gefüge des Frauensports sei gefährdet, sagt eine Wissenschaftlerin

Seitdem brodelt die Debatte. Semenyas Befürworter sagen, man müsse Menschen erlauben, zu starten, wo sie möchten, ohne sie zu behandeln oder zu operieren. Außerdem sei jede Obergrenze für Testosteron willkürlich, da sich die Werte zwischen den Geschlechtern immer überlappen, so sieht das Peter Sönksen, Professor für Endokrinologie, am St. Thomas Hospita.

Andere sagen: Die Regel war nicht perfekt, aber Testosteron sei schon ein guter Indikator, die Wissenschaftlerin Joanna Harper etwa, die am Medizinzentrum in Portland/Oregon forscht. "Wenn Athleten mit erhöhten Testosteronwerten bei Frauen mitmachen, gefährdet dies das Gefüge des Frauensports", sagte sie dem südafrikanischen Fachportal Science of Sport.

Harpers Stimme ist nicht ganz unvoreingenommen, sie sitzt in den Gremien von IOC und IAAF, die gerade über der Testosteron-Frage brüten. Aber sie ist eine interessante Personalie, weil sie nicht nur forscht, sondern sich selbst als Transgender-Person bezeichnet. Sie äußert sich, weil sie spürt, dass die Diskussion in eine gefährliche Richtung driftet. "Caster ist nicht die einzige intersexuelle Athletin in Rio", glaubt sie, "wir könnten über 800 Meter ein rein intersexuelles Podium sehen." Harper fürchtet, dass Semenya viel Ärger bekommen wird, "aber ihr einziges Vergehen ist es, mit den Gaben zu kämpfen, die die Natur ihr gab. Das wirkliche Problem ist, dass wir eine Regel brauchen, und die wurde im Vorjahr abgeschafft".

Im Fall Semenya gibt es keine einfachen Antworten

Die IAAF versucht derzeit, ihren alten Paragrafen wieder ins Regelwerk zu heben. Wenn das nicht klappt, wird sie wohl eine neue Regel entwerfen. Diese muss Frauen im Sport schützen, die ohne erhöhte Testosteronwerte antreten, gleichzeitig aber ein Umfeld schaffen, in dem jeder so akzeptiert wird, wie er ist. Ohne Regularien, wie in diesen Tagen, sagt Harper, könnte sich sonst die Nachwuchsförderung nachhaltig verändern.

Dann würden Späher nach Talenten fahnden, die Ausprägungen wie Semenya haben, weil sie größte Erfolgschancen besitzen. "Ein schlimmes Szenario für den Frauensport", sagt Harper. Wie eine Lösung aussehen könnte? "Darüber will ich nicht spekulieren." Sie weiß, dass sie alle gerade nach einer einfachen Antwort suchen in einem Feld, in dem es keine einfachen Antworten gibt.

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