Olympia:Kerber ist die logische Gold-Favoritin

Tennis - Women's Singles Semifinals

Mit Jubelschrei ins Finale: Angelique Kerber.

(Foto: Toby Melville/Reuters)

Vor zwölf Monaten glich Angelique Kerber einem Häufchen Elend - nun könnte sie Olympiasiegerin werden. Und niemanden verwundert das mehr.

Von Jürgen Schmieder

Angelique Kerber saß auf ihrem Stuhl neben dem Platz, wie ein Häuflein Elend, doch das wäre noch eine nette Umschreibung gewesen für dieses Bild. Kerber hatte verloren. Mal wieder - und mal wieder recht früh bei einem bedeutsamen Turnier. Ein wenig später schickt sie eine SMS an Bundestrainerin Barbara Rittner mit dem Inhalt: "Das soll einfach nicht klappen mit mir, oder?" Die hochbegabte Tennisspielerin Angelique Kerber, sie glaubte nicht mehr daran, dass aus ihr noch eine sehr erfolgreiche Tennisspielerin werden kann.

Fast ein Jahr ist dieser Moment her, Kerber hatte in der dritten Runde der US Open mit 5:7, 6:2, 4:6 gegen Viktoria Asarenka verloren. Sie hatte herausragend gespielt, es war die beste Partie des gesamten Turniers - aber Kerber hatte sie verloren.

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Nun, ein Jahr später im Halbfinale des Olympischen Turniers, da wirkte Kerbers Gegnerin Madison Keys wie das Häuflein Elend, vielleicht auch wie eine Mischung aus tasmanischem Teufel und Rumpelstilzchen. Da stand sie an der Grundlinie, stapfte mit dem linken Fuß auf den Boden und wedelte wild mit ihrem Schläger. Keys spielte herausragend, doch was sollte sie gegen eine Akteurin machen, die noch besser spielte? Gegen die ein perfekt gestalteter Ballwechsel gerade noch reichte, um den Punkt zu gewinnen?

"Genau davon habe ich vor einer Woche geträumt"

Ein typischer Ballwechsel dieser Partie war Mitte des zweiten Satzes zu bestaunen: Keyes hatte die Chance, das Aufschlagspiel von Kerber zu durchbrechen, sie schickte ihre Gegnerin von einer Ecke des Platzes zur anderen. Sie rückte ans Netz vor, doch sie wurde überspielt; sie erreichte den Lob und griff erneut an, doch Kerber schob diese Rückhand, bei der sie derart extrem in die Knie geht, dass es beinahe wie ein Sturz wirkt, einfach an ihr vorbei.

Keyes stand da, sie jammerte eine bisschen, dann wandte sie sich resigniert dem Balljungen zu. Sie wusste: Gegen so jemanden, da kannst Du nicht gewinnen.

"Genau davon habe ich vor einer Woche geträumt", sagte Kerber danach. Im Finale am Samstag trifft sie auf Monica Puig (Puerto Rico); sie weiß, dass sie die Favoritin sein wird: "Ich weiß, was ich kann." Jeder, der Kerber vor zwölf Monaten in New York gesehen hat, reibt sich nun verwundert die Augen und fragt: Was ist da nur passiert?

Was auf dem Tennisplatz geschehen ist, das ist freilich bekannt: Sieg bei den Australian Open. Finale in Wimbledon. Finale bei Olympia. Die bessere Frage lautet deshalb: Wie ist das nur passiert?

Der wichtige Tipp von Steffi Graf

Zunächst einmal erschien da zu Beginn der neuen Saison eine junge Frau, deren Oberarme definierter waren als zuvor, die kräftiger und zugleich schlanker wirkte. Diese Erscheinung war der äußerliche Ausdruck einer faszinierenden Entwicklung, Kerber eierte bei Journalistenfragen nicht mehr lange herum oder antwortete ausweichend wie noch zuvor, sie sagte plötzlich Sätze wie: "Ich glaube, ich zweifle nicht mehr so an mir wie damals. Ich fühle mich richtig gut, ich spiele richtig gutes Tennis gerade. Ich weiß, dass ich solche Turniere gewinnen kann."

Kerber entschied selbst, wer Druck auf sie ausüben darf. Sie blickte auf sich anstatt auf die Gegnerin jenseits der Netzkante oder die Leute in ihrer Box oder die Zuschauer auf der Tribüne. Sie redete sich ein, dass sie eben nicht nur hochbegabt, sondern auch hocherfolgreich sein kann. Die Konterspielerin veränderte auch ein bisschen ihren Stil, sie hetzte nicht nur von einer Seite zur anderen, sondern agierte mutiger, aggressiver, bestimmender. "Vertraue Deinen Fähigkeiten", lautete die banale und doch so wichtige Botschaft. Die Absenderin: Steffi Graf, als Kerber sie in Las Vegas besuchte.

Kerber nutzt drei Breakbälle

Nun steht da eine Frau auf dem Platz, die nicht mehr nach jedem Fehler mit sich hadert - aber auch nicht mehr jeden Punktgewinn wild bejubelt. Es kann eine Gegnerin auch auf die Palme treiben, wenn die andere Spielerin nach drei grandiosen Punktgewinnen eben nicht die Faust ballt und rumbrüllt, sondern durch gelassenes Marschieren zur Grundlinie signalisiert: Ganz normal, was hier passiert, dagegen hast Du keine Chance. Beide Spielerinnen hatten jeweils elf Breakchancen in dieser Partie. Keyes nutzte keine, Kerber drei - deshalb stand es am Ende 6:3, 7:5. "Das ist etwas ganz Besonderes", sagte Kerber danach: "Ich will meinen Emotionen aber noch nicht freien Lauf lassen."

Es waren erstaunliche zwölf Monate im Leben der Angelique Kerber, die ja noch nicht ganz vorbei sind - die bittere Niederlage gegen Asarenka datiert vom 6. September 2015. Am Samstag kann sie Olympiasiegerin werden, in der kommenden Woche Serena Williams als Nummer eins der Weltrangliste ablösen. Gleich darauf beginnt dann dieses Turnier in New York.

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