Olympia:Der vergessene Stürmer

Pyeongchang 2018 Winter Olympics

Er hat eine historische Leistung vollbracht: Eishockey-Nationalspieler Patrick Reimer.

(Foto: Kim Kyung-Hoon/Reuters)

Von Johannes Schnitzler

Im Deutschen Haus steht eine Mauer, die "Wall of Champs". Die Ziegel dieser Mauer bilden Porträts aller deutschen Olympia-Starter in ihren offiziellen orangefarbenen Kapuzenpullis. Auch Patrick Reimer hat einen Stein in dieser Mauer. Der Eishockeystürmer von den Nürnberg Ice Tigers sieht darauf aus wie ein Rapper, wie er sich die Kapuze hochschlägt, er hat Ähnlichkeit mit dem "Tiger" Dariusz Michalczewski vor dem nächsten Kampf. Entschlossen. Und ein bisschen finster. Über dem Bild steht: "Merk Dir mein Gesicht."

Das Bild vom Boxer stimmt schon irgendwie. Reimer fehlte im letzten Gruppenspiel gegen Norwegen und im Achtelfinale gegen die Schweiz wegen einer Nackenverletzung. Seit Saisonbeginn plagt sich der 35-Jährige mit Blessuren, 13 Tore sind für den mit 318 Treffern erfolgreichsten Stürmer in der Geschichte der Deutschen Eishockey Liga (DEL) ein eher bescheidener Wert. Es gab Zweifler unter den zigtausend Bundestrainern im Land, die Marco Sturm dafür kritisierten, dass er Reimer in seinen Pyeongchang-Kader berief.

Aber der Allgäuer Reimer kämpfte sich zurück, trainierte allein, und als am Mittwoch, 23.31 Uhr Ortszeit im Kwandong Hockey Centre, dieses 4:3 gegen den Weltmeister und zweimaligen Olympiasieger Schweden feststand, da wussten wieder alle, warum der echte Bundestrainer Sturm an dem Instinktspieler festgehalten hat.

In der Verlängerung zog Reimer, bedient von seinem Nürnberger Sturmpartner Yasin Ehliz, vor das schwedische Tor, täuschte einen Verteidiger, scheiterte erst am Schoner von Viktor Fasth, setzte entschlossen nach und schob im zweiten Versuch die Scheibe unter der Fanghand des Torhüters hindurch ins Netz. "Ich habe gleich gewusst, dass es regulär war", sagte er hinterher. Die Schiedsrichter waren sich nicht so sicher und kontrollierten die Szene auf dem Video. Die Sekunden zogen sich wie Lindenberger Schmelzkäse, selbst auf der Pressetribüne bibberten erfahrene Reporter: "Also, wenn das kein Tor war ..." Bis die Referees nach einer gefühlten Ewigkeit zurück aufs Eis kamen und verkündeten: "We have a good goal." Tor!

Deutschland steht im Halbfinale des olympischen Eishockeyturniers, und es ist schon jetzt der größte Erfolg für den DEB seit 1976, jener zum "Wunder von Innsbruck" verklärten Bronzemedaille. Reimer, der Kämpfer, hatte wieder einmal zugeschlagen.

Reimer würde gerne "besser zulangen" können

Das Bild vom Boxer ist andererseits das verwackeltste, das man für Patrick Reimer aus der Schublade kramen könnte. Als Torjäger wird er von seinen Teamkollegen beschützt, fürs Boxen sind andere zuständig. Wenn er sich etwas wünsche dürfte, dann, dass er selber "ein bisschen besser zulangen" könnte, hat Reimer mal gescherzt.

Abseits der Eisfläche gehört der Nürnberger zu den beliebtesten DEL-Profis. In Pyeongchang wird er stets von einer Gruppe Fans mit schwarz-rot-goldener Flagge und der Aufschrift "Mindelheim" empfangen, eine Reverenz an seine Heimatgemeinde. Auch nach zehrenden Duellen beantwortet er höflich und reflektiert selbst abgedroschenste Fragen, er ist, konträr zum Klischeebild vom groben Eishockey-Klotz, ein mitfühlender Teamplayer.

Reimer gehörte zur Mannschaft, die die Qualifikation für Sotschi verpasste

Als er vergangene Saison Ehliz mit einem Schlagschuss am Ohr traf, war ihm die Pein darüber ebenso anzusehen wie Ehliz die klaffende Wunde. Am Mittwoch, kurz vor Mitternacht, lobte Reimer als Erstes seine Mitspieler, die sich selbstlos in jeden Schuss geworfen hatten: "Die Jungs haben heute den Preis bezahlt. Es ist immer wieder einer humpelnd vom Eis gekommen oder hat sich die Hand gehalten"; er lobte den Münchner Dominik Kahun, 22, Schütze des Führungstreffers zum 3:1, der "ein unglaublicher Spieler" sei. Über seine eigene Leistung sagte er lediglich: "Ich wollte einfach nur noch, dass der Schiri auf die Mitte zeigt und ich jubeln kann."

Reimer kann sich noch an den Februar 2013 erinnern, als die deutsche Mannschaft in der Qualifikation für das olympische Turnier in Sotschi scheiterte. Im entscheidenden Spiel gegen Österreich schoss er, auch damals in der Verlängerung, den 3:2-Siegtreffer. Deutschland hätte aber in der regulären Spielzeit gewinnen müssen. Es war der verzichtbarste Treffer in Reimers Karriere.

Nun, fünf Jahre und ein paar bange Sekunden später, durfte er endlich jubeln. Spät, "aber umso intensiver". Der Einzug ins Halbfinale ist die Chance, am Sonntag um Gold oder am Samstag um Bronze zu spielen. Für Reimer und die anderen geht mit dieser Medaillenchance ein Traum in Erfüllung: "Wir haben immer davon gesprochen", sagte Reimer. "Jetzt haben wir es geschafft.

Wir haben Großes erreicht. Aber es ist noch viel mehr drin." Dass der Nürnberger auf seine alten Tage abhebt, muss niemand befürchten, am wenigsten der Bundestrainer. Als Reimer 2017 zum zweiten Mal nacheinander zum besten Spieler der DEL gewählt wurde, fragten die Organisatoren der Gala seine Frau, ob sie nicht die Laudatio auf ihren Mann halten wolle. Anja Reimer sagte zu und hielt eine bewegende Rede. Bis ihr die Stimme stockte. Unter Tränen sagte sie, was für sie das Wichtigste ist: "In all den Jahren bist du der geblieben, der du immer warst: ein bescheidener, bodenständiger, liebenswerter Mann." Einer, der am Mittwochabend mit seinen Spielkameraden im Kwandong Hockey Centre übers Eis hopste, als wären sie eine Gruppe Drittklässler nach dem ersten Hitzefrei.

Patrick Reimers Gesicht ist am Mittwoch ein bisschen bekannter geworden in Deutschland. Es ist ein Gesicht dieser Mannschaft, die man sich merken wird.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: