Olympia:Die Zeit stand still

  • Francesco Friedrich kommt mit der exakt gleichen Zeit wie der Kanadier Kripps ins Ziel - und beide holen olympisches Gold.
  • Für die Deutschen ist dieser Erfolg der Lohn eines jahrelangen Prozesses.
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Von Volker Kreisl, Pyeongchang

Eine halbe, vielleicht eine Sekunde hatte diese Unterbrechung gedauert. Ein Hänger im Blick, ein kurzer Stillstand, bis alle dieses Ergebnis begriffen.

Sonst lässt sich ein Resultat in der Eisrinne am Monitor schnell erfassen, nämlich an der Farbe: Bei grün hinterlegter Zeit hat der einfahrende Bob gewonnen, bei Rot verloren. Jetzt aber: keine Farbe, nur zweimal die "1" vor den Namen. Dann breitete sich das allgemeine Geschrei aus auf der Tribüne, und zwei Zweierbob-Besatzungen jubelten drauflos.

Die eine bildeten Justin Kripps und sein Anschieber Alexander Kopazc, sie waren gerade als Letzte des letzten Laufs ins Ziel geschossen, trommelten und fäustelten auf Haube und Chassis ihres Schlittens und nach dem Aussteigen weiter auf Schultern und Rücken der Gratulanten aus ihrem kanadischen Team. Die andere Besatzung war das sächsische Gespann Francesco Friedrich / Thorsten Margis, soeben noch die Führenden in der Siegerbox, auch sie klopften, hauten und tanzten. Beide Bobs waren nun Olympiasieger.

Vier Läufe, zwei Tage, dazwischen eine kurze Nacht, und am Ende zweimal dieselbe Gesamtzeit: 3:16,86 Minuten. Exakt vor 20 Jahren hatte es das bei den Spielen in Nagano schon einmal gegeben. In Nagano war es aber auch zuvor nur ein Zweikampf, diesmal waren fünf Bobs bis zum Schluss im Rennen, beteiligt waren außer den beiden späteren Siegern noch der Bronze-Gewinner Oskars Melbardis mit Anschieber Janis Strenga aus Lettland sowie die deutschen Bobs von Nico Walther und Johannes Lochner. Sie alle hatten bis zum letzten Lauf noch Siegchancen, der zuvor hoch gehandelte Südkoreaner Won Yunjong war dagegen bereits abgeschlagen.

Heraus kam dann dieses salomonische Resultat - ein gerechter Lohn für die hervorragend lenkenden Kanadier, und auch einer für den viermaligen Weltmeister Friedrich und seinem Anschieber Margis mit ihren stets beachtlichen Startzeiten. "Es war ein unglaubliches Rennen, so was Spannendes hab' ich selten erlebt", sagte Cheftrainer René Spies, er wirkte dabei matt und müde. Denn für den deutschen Bob- und Schlittenverband war nicht nur die Nacht zwischen diesen vier Läufen kurz. Auch die Wochen davor hatten sich durch das stressige Projekt Bob-Gold verdichtet.

Diese Zuspitzung war das Ende eines jahrelangen Prozesses, eines Marathonlaufs mit Gruppen-Endspurt. Angefangen hatte alles mit dem seit 50 Jahren ersten medaillenlosen Olympiaauftritt von Sotschi 2014. Als schuldig wurde das Bob- Material der Berliner Forschungs- und Entwicklungsstelle FES ausgemacht, obwohl Piloten und Fahrer auch zu langsam angeschoben hatten. Eine Verbandskommission analysierte, man trennte sich von Trainer Christoph Langen, die FES tüftelte einen neuen Zweier-Bob aus, der schien aber auch wieder nicht schnell genug zu sein.

Der Winter '17/18 war eine einzige Schufterei

Das immer noch angeknackste Selbstbewusstsein der Deutschen verlangte vor einem Jahr eine zweite Sicherheit. Dies gipfelte in einer aufwendigen Sonderausstattung - im Bob nach Maß. Neben dem neuen FES-Schlitten durften sich die Fahrer auch von dem erstklassigen Bobbauer Johannes Wallner aus Innsbruck ausstatten lassen, sie hatten die Wahl. Damit war es aber nicht getan, wieder traten Probleme auf, und der Winter '17/18 wurde zur Schufterei - an den Hanteln, an den Lenkseilen des Bobs und am Schraubenschlüssel. Schlitten wurden ausgetauscht, Friedrich wechselte sogar noch mal die Marke, und mit letzter Kraft hatten alle beim letzten Saisonweltcup am Königssee ihr Ziel erreicht: Die Piloten Friedrich, Lochner und Walther fuhren als Favoriten zu Olympia.

Aber für den Titel "Favorit" gibt es keine Medaille, und nur darum ging es. Normalerweise setzen sich bei Olympia während der vier Medaillen-Rennen ein oder zwei Piloten ab, oft sind es die Einheimischen, oder es ist der Primus der Saison. André Lange aus Suhl war dies zweimal hintereinander gelungen, in Turin 2006 und Vancouver 2010, auch dem Russen Alexander Subkow in Sotschi, wobei dessen Medaillen wegen Verwicklung ins Staatsdoping wieder aberkannt wurden. In Pyeongchang setzte sich keiner ab. Die Darsteller klebten aneinander - vor dem letzten Lauf lagen nur 13 Hundertstel zwischen Platz eins bis fünf.

"Jetzt brauchen wir einen Zauberlauf"

15 von 20 Bobs waren durch, als das Quintett an die Reihe kam. Doch Nico Walther verlor zu viel Zeit im unteren Bereich, und Johannes Lochner scheiterte wieder an der Kurve neun. "Ich habe sie vielleicht drei Mal in all den Trainingsläufen hier getroffen", sagte er. Lochner ist ein guter Vierer-Pilot, es war zu erwarten, dass er mit dem Zweierschlitten zurückfallen würde. Weil Melbardis fehlerfrei durchkam, stand auf einmal wieder alles auf dem Spiel. Es wurde eng, "da dachte ich, jetzt brauchen wir einen Zauberlauf", sagte Spies.

Gemeint war Friedrich, der letzte Verbliebene des deutschen Trios. Er hatte nur drei Stunden geschlafen in dieser Nacht, vor lauter Nervosität, und es gelang ihm tatsächlich kein Zauberlauf. Es war nur ein sehr starkes letztes Rennen, wie er es so oft schon gezeigt hatte. Einmal war er kurz an die Bande gescheppert, dann lag er im Ziel vorn, mit 0,06 Sekunden Vorsprung.

Kripps und Kopacz wuchteten sich oben in den Bob, lagen zurück, führten wieder, führten wieder knapper, dann nur noch mit zwei Hundertsteln, bei der nächsten Zwischenzeit mit einer Hundertstel, dann kamen sie ins Ziel, und die Zeit stand für einen Moment still.

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