Olympia: Der Medaillenspiegel:Milchmedaillenrechnung

Deutschland kämpft um Platz eins im Medaillenspiegel. Wobei der ja ziemlich interpretierbar ist. Ein Streifzug durch die Nationenwertungen - mit überraschenden Ergebnissen.

Johannes Aumüller

Am Sonntagabend um 21.15 Uhr geht es um alles. Es ist Eishockey-Finale, die 86. von 86 Entscheidungen, Kanada trifft auf die USA - ein Spiel, das sich in der Vorberichterstattung wahlweise den Beinamen "Traumfinale" oder den Beinamen "Hassduell" verdiente. Doch Stand Samstagmittag MEZ kann es sehr gut sein, dass sich der Gewinner dieser Partie nicht nur über die Goldmedaille im olympischen Eishockey-Turnier freuen darf, sondern über einen viel wichtigeren Sieg. Den Sieg im Medaillenspiegel.

Dieser Medaillenspiegel ist eine irre Sache. Eigentlich listet er nur die Erfolge der teilnehmenden Länder auf, sortiert ihn erst nach der Zahl der Goldmedaillen, bei etwaigem Gleichstand nach der Zahl der Silber-, dann nach der Zahl der Bronze-Medaillen - doch diese einfache Auflistung entwickelt eine unglaubliche Dynamik. Jeder interessiert sich dafür, die Internet-User googeln so oft nach ihm wie nach Maria Riesch, im Fernsehen ist er noch öfter zu sehen als das ZDF-Bibermaskottchen Vancy.

In Russland (Stand Samstagmittag: 11. Platz mit 3 Gold, 5 Silber, 7 Bronze) führte er schon zu einer kleinen Staatskrise, in der Schweiz (6., 6/0/2) zum ersten positiven internationalen Echo seit langem, und zwischen Kanada (1., 10/7/4), Deutschland (2., 9/11/7), den USA (3., 8/13/13) und Norwegen (4., 8/6/6) zu einem spannenden Wettkampf. Ständig wechselte die Führung, ständig schickten die Agenturen neue Eilmeldungen, und neun Entscheidungen vor der Abschlussfeier ist immer noch nichts entschieden. Jeder aus dem Länder-Quartett hat noch diverse Goldanwärter am Start, mithin Chancen auf Rang eins im Medaillenspiegel.

Es ist ein herausragendes Verdienst der Winterspiele, diesen Kampf bis zum letzten Tag aufrecht zu erhalten - wie erbärmlich langweilig war das doch 2008 in Peking, als es ja gar nicht darum ging, wer die Nationenwertung gewinnen würde, sondern lediglich darum, ob China in den 302 Wettbewerben nun 40, 50 oder 303 Goldmedaillen zu holen würde. Die Deutschen sind dabei in der besten Position: Denn sollten sie am Ende weniger Gold als die Konkurrenz haben, können alle Funktionäre mit voller Freude auf den ewigen Medaillenspiegel zeigen, in dem Deutschland während der Tage von Vancouver Russland von Platz eins gestoßen hat.

Wobei man ehrlicherweise einschränken muss: Nur für die Mitteleuropäer ist der Kampf noch offen, für jeden Nordamerikaner ist er längst entschieden. Denn dort sind für das Nationenranking nicht die Goldmedaillen entscheidend, sondern die Aufaddierungen aller Medaillen. Was zur Folge hat, dass die USA mit ihren 34 Medaillen (Deutschland 27, Kanada 21, Norwegen 20) uneinholbar in Führung liegen.

Über die Gründe für diesen Modus zu spekulieren, ist hier kein Platz, sie liefert aber einen guten Impuls, sich über den Medaillenspiegel als solches Gedanken zu machen. Als sich 2006 Deutschland über den ersten Platz freute, schrieb SZ-Leser Manuel K. folgende nachdenkenswerte Zeilen: "Bei vollständig unterschiedlichen Mannschaftsgrößen ist die Zahl der gewonnenen Goldmedaillen ungefähr ein so genaues Maß für die sportliche Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Nationen wie die Zahl geleerter Apfelsaftflaschen für die Zahl der Birnbäume am Nil. Ermittelt man die Zahl Goldmedaillen pro Einwohner, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Platz 1: Estland (Glückwunsch!) mit drei Goldmedaillen, Platz 2: Österreich (neun) und Platz 3: Schweden (sieben)."

Es führen die Bayern und der Zoll

Ein richtiger Einwand. In Vancouver 2010 liegt im "Medaillenspiegel gemessen an der Einwohnerzahl" nicht Estland, sondern Norwegen (acht Gold mit nur 4,8 Millionen Einwohner) in Führung. Der Ansatz des Lesers K. besticht übrigens nicht nur durch sein unübertreffbares Gerechtigkeitsempfinden, sondern auch durch die unglaubliche Dramatik, die er beschert. Nur ein, zwei Goldmedaillen eines einwohnerarmen Landes in den letzten Entscheidungen - und, zack, hat Norwegen seine Spitzenstellung eingebüßt.

Der Leser K. mag aber den Hinweis verkraften, dass seine Rechnung Schwachstellen hat. Denn er bezieht sich wiederum nur auf die mitteleuropäische Sichtweise, nicht auf nordamerikanische. Zum Glück sind die 4,8 Millionen Norweger aber nicht nur fleißige Gold-, sondern ebenso fleißige Silber- und Bronzesammler, liegen auch im "Medaillenspiegel gemessen an der Einwohnerzahl in der nordamerikanischen Sichtweise" an der Spitze - und müssen hier nichts mehr befürchten. Svendsen, Björndalen & Co. haben so viele Podestplätze eingefahren, dass selbst eine plötzlich erstarkte Equipe aus Andorra nicht mehr in der Lage wäre, auf einen höheren Quotienten zu kommen.

Definitiv weit hinten wäre Deutschland übrigens in einem von den FAZ-Kollegen ins Spiel gebrachten Ranking, in dem berechnet wird, mit wie viel beziehungsweise wie wenig investiertem Geld eine Goldmedaille errungen wird. Doch bevor nun weiterführende Überlegungen unter Einbeziehung der Anzahl der Berge, der Niederschlagsmenge Schnee pro Quadratmeter etc. angeführt werden, soll noch schnell auf einen kleinen Bruder des Medaillenspiegels verwiesen werden, der viel seltener über die Fernsehsender läuft als ZDF-Biber Vancy, fürs (lokal)patriotische Gemüt aber immens wichtig ist: den innerdeutschen Vergleich.

Während 2002 eine Thüringer Zeitung noch voller Stolz verkündete, mit der Ausbeute der heimischen Sportler hätte der Freistaat alleine auf Platz vier des internationalen Medaillenspiegels gelegen, hat sich das Blatt mittlerweile zu Gunsten der Bayern gewendet. 5,5 Goldmedaillen (im Langlauf-Teamsprint lief ja die Bayerin Sachenbacher-Stehle gemeinsam mit der Sächsin Nystad) kann Horst Seehofer für sich reklamieren, Thüringen kommt nur auf zwei.

Doch damit ist das Ende der Intradifferenzierung noch nicht erreicht. Auf der Internetseite www.zoll.de wird stolz auf die Erfolge des "Zoll Ski Teams" verwiesen, fünf Goldene, drei Silberne, wobei da großzügigerweise die Staffelmedaillen für Tim Tscharnke und Miriam Gössner voll vereinnahmt werden, obwohl doch auch Nicht-Zoller beteiligt waren. Schmerzen muss das jedenfalls die Bundeswehr, deren oberster Dienstherr nach Turin noch stolz verkündet hatte: "Ohne die Bundeswehr wäre Deutschland nur auf Platz 13."

In der Wertung der Braunhaarigen gegenüber den Blonden liegt übrigens ... genug. Es wird hoffentlich für jeden irgendein Medaillenspiegel existieren, in dem er sich auf Platz eins rechnen kann. Nur eines muss allen Interpretatoren der Medaillen gewiss sein: Nach den Erfahrungen der vergangenen Olympischen Spiele ist die Chance groß, dass es aufgrund von Nachtests, Dopingfällen undsoweiter zu nachträglichen Verschiebungen kommt.

Und dann geht das ganze Zählen und die ganze Rechnerei wieder von vorne los.

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