Olympia:"Der härteste Tag, den ich auf einem Rad erlebt habe"

Olympia: Der Belgier Greg Van Avermaet triumphiert nach einem turbulenten Rennen durch die Stadt.

Der Belgier Greg Van Avermaet triumphiert nach einem turbulenten Rennen durch die Stadt.

(Foto: AP)

Von 144 Startern erreichen nur 63 das Ziel. Stürze und Verletzungen prägen das Straßenrennen der Radsportler. Ein Belgier profitiert.

Von Johannes Knuth, Rio de Janeiro

Der Radrennfahrer Greg Van Avermaet blickte über die Schulter, er wartete jetzt noch auf den Dänen Jakob Fuglsang, den er gerade im Spurt abgehängt hatte. Dann rollten sie Arm in Arm, Schulter an Schulter durch den Zielbereich, der neue Olympiasieger aus Belgien und der Geschlagene. Zu zweit hatten sie sich gerade die letzte Abfahrt hinuntergeworfen, sie hatten Gestürzte, Verletzte, auch ein paar gestürzte sowie verletzte Favoriten hinter sich gelassen.

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Auf dem letzten Kilometer hatten sie sich dann noch den Polen Rafal Majka geschnappt. Und nun rollten sie also durch die Nachmittagshitze von Rio, zwei Fahrer, die vor Freude und Erleichterung dampften. Es war ein passendes Bild: Diesen Kurs konnte man am Ende wohl nur gemeinsam durchstehen, in einem Rennen "voller Anarchie", wie der Amerikaner Brent Bookwalter später befand. "Es war stressig mit all den Stürzen", sagte Van Avermaet später, "aber das Gefühl jetzt ist das beste überhaupt." Der Ire Daniel Martin assistierte: "Das war der härteste Tag, den ich bislang auf einem Fahrrad erlebt habe. Es war ein brutales, komisches Rennen."

Das olympische Straßenrennen der Männer hatte sich am Samstag also seine drei besten Fahrer ausgesucht. Aber im Grunde hatte sich jeder der 65 Fahrer, der diese sechs Stunden währende Hatz durch Stadt, Hafen und Urwald durchstand, am Ende eine Tapferkeitsmedaille verdient. Die Fahrer, 144 waren es noch am Start, hatten sich zunächst die Küste entlang getastet, am Atlantik, der den Wind scharf aufs Festland pustete. Dann kraxelten sie über Ipanema und Barra in den Urwald. Die erste Schleife, eine etwas leichtere, passierten sie viermal, in der zweiten, die sie dreimal abspulten, steckten zwei fiese Anstiege.

Bis zu 18 Prozent steil war es

Es war ein Kurs voller Gemeinheiten, den die Organisatoren da aneinandergeknüpft hatten, der sich zu einer einzigen, 237 Kilometer langen gespickten Gemeinheit verdichtete: mit 4500 Höhenmetern, mit Kopfsteinpflaster, Straßen so breit wie eine Hofeinfahrt, Dschungel. Und mit Hügeln, vielen Hügeln. Bis zu 18 Prozent steil war es, wenn es den Vista Chinesa hinaufging. Bei einer Abfahrt kippte die Straße bei einer Rechtskurve nach links weg, es hatte den Anschein, als habe da jemand eine Bobbahn mit einer alpinen Skiabfahrt gekreuzt und mit Beton ausgekleidet.

"Jede erdenkliche Gefahr, die dir in einem Rennen zu schaffen machen kann, steckt in diesem Kurs", hatte der Neuseeländer George Bennett vor dem Start befunden. Er behielt Recht.

Geschkes Flucht endet 40 Kilometer vor dem Ziel

Der Kurs nahm sich bald die ersten Fahrer, der Türke Ahmet Örken klatschte aufs Kopfsteinpflaster, andere beklagten platte Reifen und defekte Ketten. Nach 15 Kilometern rissen sechs Fahrer aus, darunter der Deutsche Simon Geschke, ein Spezialist für derartige Ausflüge. Geschke hatte im vergangenen Jahr die erste schwere Alpenetappe bei der Tour de France gewonnen, als Ausreißer. Seine einzige Chance lag in der Flucht, er klettert nicht so gut wie die Besten, wie der Italiener Vincenzo Nibali oder der Brite Christopher Froome, der diensthabende Tour-de-France-Sieger.

"Wir haben den Vorteil, dass die großen Fahrer nicht unbedingt auf mich schauen, sondern vielleicht ein bisschen mit sich selbst beschäftigt sind", hatte Geschke vor dem Rennen gesagt. Er setzte sich mit seiner Gruppe dann auch prompt um acht Minuten ab. Nach 80 Kilometern waren die acht Minuten aber auf fünf zusammengeschrumpft. Und die Mittagssonne brannte kräftig auf die Helme.

Die Spanier und Briten klemmten sich jetzt vors Hauptfeld, um ihre Favoriten im Rennen zu halten. Geschke war noch genau in der Position, die er sich erhofft hatte mit seinen Ausreißern, aber sein Vorsprung war bescheiden, zwei Minuten bloß, und das Ziel an der Copacabana war noch fern. Einer nach dem anderen fielen sie aus der Spitzengruppe, als Drittletzter Geschke. Er stieg später aus, Emanuel Buchmann wurde als bester Deutscher 14. Rund 40 Kilometer vor dem Ziel war das Rennen der Ausreißer beendet, jetzt brach die zweite Etappe an diesem Samstag an, die wilde Kletterei der Favoriten.

Nibalis Sieg zerfällt in einer Kurvenkombination

Ein paar Favoriten waren in die Führungsgruppe gesprungen, Nibali, der Schweizer Fabian Cancellara, der Brite Adam Yates. Froome steckte im Peloton fest, eine Minute dahinter, seine Hoffnungen schmolzen langsam in der Nachmittagssonne dahin. Vor dem Start hatte er beinahe vergessen, sich in die Startliste einzuschreiben, ein Reporter der BBC erinnerte ihn gerade noch rechtzeitig. Jetzt attackierte er noch einmal, aber der Angriff verpuffte, weil Nibali an der Spitze ebenfalls attackierte und zwei Fahrer mit sich zog: Majka und den Kolumbianer Sergio Henao. Nibali sah jetzt immer mehr wie der Sieger aus - dann zerfiel sein Sieg in einer engen Links-Rechts-Kurvenkombination.

Rund 100 Meter vor der Kurve warnen Tempo-30-Schilder vor der Gefahr, man muss scharf nach links abbiegen, ansonsten prallt man auf den Bordstein am rechten Straßenrand. Der Australier Richie Porte (Schulterblattbruch) und der Portugiese Oliveira waren dort eine Runde zuvor bereits verunfallt, sie hatten sich vermutlich nicht ganz ans Tempolimit gehalten. Jetzt blieben auch Nibali (Schlüsselbeinbruch) und Henao (Beckebruch) am Bordstein hängen und klatschten auf die Straße. Aus, vorbei. Majka schlängelte sich behutsam durch die Unfallstelle, bis eineinhalb Kilometer vor dem Ziel durfte er sich als Olympiasieger fühlen, aber es reichte nicht. Weil Van Avermaet und Fuglsang von hinten heran rauschten, hinein in ihr gemeinsames Glück.

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