Olympia:Caster Semenya - der komplizierteste Fall der Leichtathletik

Rio 2016 - Olympic Games 2016 Athletics, Track and Field

Caster Semenya vor dem Halbfinale über 800 Meter.

(Foto: dpa)

In der Nacht läuft die vermutlich intersexuelle Caster Semenya im 800-Meter-Finale von Rio um Gold. Ist es korrekt, dass sie starten darf? Chronik einer sehr schwierigen Debatte.

Anfang: 2008 lief Caster Semenya zum ersten Mal bei einem internationalen Wettkampf mit. Bei der Junioren-WM im polnischen Bydgoszcz startete sie über 800 Meter, musste aber nach einer Zeit von 2:11,98 Minuten im Vorlauf ihre Sachen packen. 2009 gewann sie nach einem Leistungssprung zwei Goldmedaillen bei den Juniorenmeisterschaften Afrikas, zudem wurde sie Landesmeisterin Südafrikas. 1:56,72 Minuten bedeuteten nicht nur neuen Landesrekord, sondern auch Weltjahresbestleistung. Eine große Überraschung für eine 17-jährige Athletin.

WM in Berlin 2009: Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin gewann Semenya in 1:55,45 Minuten, deutlich vor der Konkurrenz. Mit dem Sieg begann eine der kompliziertesten und emotionalsten Geschichten der Leichtathletik. Semenya wirkte zu diesem Zeitpunkt bereits sehr männlich und dem internationalen Leichtathletik-Verband IAAF kamen Zweifel, ob sie eine Frau ist. "Dies ist ein sehr sensibles Thema. Wir hatten keine abschließenden Beweise und deshalb keinen Grund, ihr den Start zu verbieten", sagte damals ein Sprecher.

Semenya selbst setzte die Situation persönlich enorm zu. "Niemand hat mir je erklärt, dass ich kein Mädchen sei. Ich bin kein Junge". Verzweifelt fügte sie hinzu: "Warum hat man mich überhaupt hierher gebracht. Sie hätten mich in meinem Dorf lassen sollen." Die Leichtathletik war mit dem Fall überfordert.

Medizinische Kommission: Nach der WM ordnete die IAAF einen Geschlechtstest an, was vor allem in Südafrika zu Empörung und Protest führte. Die Untersuchungen der Medizinischen Kommission der IAAF, bestehend aus Gynäkologe, Internist, Endokrinologe, Geschlechter-Experte und Psychologe, zur Beantwortung der Frage "Ist Caster Semenya Frau oder Mann?" zogen sich über elf Monate in die Länge.

Die Ergebnisse blieben vertraulich. Das südafrikanische Sportministerium teilte mit, dass Semenya die Goldmedaille und das Preisgeld von Berlin behalten dürfe. In der Szene wurde geraunt, Semenya sei intersexuell, habe erhöhte Testosteronwerte.

Comeback auf der Laufbahn: Am 6. Juli 2010 gab die IAAF bekannt, dass Semenya mit sofortiger Wirkung wieder bei den Frauen starten darf. Am 15. Juli trat Semenya im kleinen Kimpinen-Stadion der finnischen Stadt Lappeenranta an. Ihr finnischer Manager Jukka Härkönen hatte diesen abgelegenen Ort bewusst gewählt, um seinem Schützling den medialen Auftrieb in einem großen Stadion zu ersparen. Unter den 4.200 Zuschauern waren dennoch über 50 Journalisten aus zehn Ländern. Sie erlebten freundlichen Applaus des Publikums und einen lockeren Sieg Semenyas in 2:04,22 Minuten nach elf Monaten Pause. Nach einem Jahr kam sie im August 2010 ins Berliner Olympiastadion zurück. Sie wurde von den 50.000 Zuschauern in Berlin freundlich empfangen.

Neue Regel zu Olympia in London: Die IAAF zimmerte 2011 dann eine neue Regel zusammen: eine Obergrenze für Testosteron. Wessen Körper zu viel davon produzierte, musste sich einer Hormontherapie unterziehen. Semenyas Leistungen fielen ab. Wobei sie immer noch sehr gut waren. Bei der Weltmeisterschaft im südkoreanischen Daegu und bei den Olympischen Spiele in London gewann sie die Silbermedaille. In London blieb sie hinter der Russin Maria Sawinowa, im Zuge der Enthüllungen um das russische Staatsdoping liegt mittlerweile eine Empfehlung der Welt-Anti-Doping-Agentur vor, Sawinowa lebenslang zu sperren. In der Zeit nach den Olympischen Spielen kämpfte Semenya mit der Hormon-Therapie und mit Knieverletzungen. Sie verpasste die WM in Moskau 2013.

Sportgerichtshof kippt Hormon-Regelung: Der Sportgerichtshof Cas verbot im Sommer 2015 den wissenschaftlich umstrittenen Testosteron-Paragrafen. Der Verband konnte nicht nachweisen, dass Testosteron als Indikator ausreicht, um jemanden als Mann oder Frau zu klassifizieren. Semenya nähert sich seitdem wieder ihrer Form von 2009, und auch wenn ihr Trainer widerspricht, glauben viele, dass ihre Renaissance der stillgelegten Regel geschuldet ist. Semenya sagt dazu nichts.

Olympia 2016 in Rio: Semenya gewinnt in Brasilien mit der Weltklassezeit von 1:55,28 Minuten über 800 Meter ihre zweite olympische Goldmedaille. Das besondere an diesem Rennen: Auf dem zweiten und auf dem dritten Platz landen mit Francine Niyonsaba aus Burundi und Margaret Nyairera Wambui aus Kenia zwei weitere Sportlerinnen, die als hyperandrogen gelten, also einen erhöhten Testosteron-Level haben. Die Amerikanerin Brenda Martinez forderte: "Da muss man endlich etwas machen." 2017 gewinnt Semenya bei der Weltmeisterschaft in London erneut eine Goldmedaille. Der Cas kündigte eine Neubewertung an.

Neue Regel 2018: Am 1. November 2018 wollte der internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) erneut eine Testosteron-Grenze einführen. Nach der geplanten Regel dürfen Frauen, wenn sie auf bestimmten Strecken (400 Meter bis Meile) international starten wollen, einen Grenzwert für körpereigenes Testosteron von fünf Nanomol pro Liter nicht überschreiten. Wegen der Strecken-Begrenzung heißt die Regel auch inoffiziell "Lex Semenya". Warum der Verband es plötzlich wieder mit so einer Regel versucht? Die Verantwortlichen denken, dass sie diesmal die geforderten Nachweise erbringen können. Semenya und der südafrikanische Leichtathletik-Verband legten Einspruch ein - und seitdem versucht der Cas, eine Entscheidung zu finden.

Semenyas Anwaltsteam forderte vor der Anhörung in Lausanne, "ihr genetisches Geschenk sollte gefeiert und nicht diskriminiert werden". Die Juristen des Leichtathletik-Verbandes warnen vor weitreichenden Konsequenzen, falls das Urteil gegen die IAAF ausfällt. "DSD-Athletinnen (Differences of Sexual Development) werden künftig die vorderen Plätze besetzen und das ganze Preisgeld gewinnen", behauptete der IAAF-Anwalt Jonathan Taylor neulich: "Frauen mit normalen, weiblichen Testosteronwerten werden keine Chance mehr haben." Bei fast allen Frauen läge dieser Wert ja bei weniger als drei Nanomol pro Liter Blut.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: