Österreich:Jetzt hilft nur noch Freud

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Bei ihrer Auftakt-Niederlage scheitern die hoch gehandelten Österreicher auch an den eigenen Nerven. In die nächsten Spiele gehen sie geschwächt.

Von Javier Cáceres, Bordeaux

David Alaba kam fast als letzter aus der Kabine der Österreicher, und die Frage nach dem werten Befinden im Anschluss an das 0:2 (0:0) gegen Ungarn erübrigte sich weitgehend. Der Angestellte des FC Bayern München, der in der Heimat wie ein Popstar verehrt wird, hatte sich gigantische Kopfhörer über die Ohren gestülpt. Ganz so, als fürchte er, dass das mit markantem Akzent vorgetragene "Auf Wiedersehen!", das die ungarischen Fans den Nachbarn zum Schluss der Partie ironisch im Chor zugerufen hatten, noch von irgendeiner Wand in den Katakomben des Stadions von Bordeaux widerhallen könnte. Ein Presseoffizier der Österreicher begleitete Alaba und redete so lange auf ihn ein, bis der wenigstens ein Ohr freigab, um doch den Reportern ein paar Antworten auf drängende Fragen zu geben.

"Hätt-i-tat-i-warat-i"-Erlebnis für David Alaba: Er trifft in der ersten Minute den Pfosten

Und so stand Alaba da, mit dem herausfordernden Blick eines Halbstarken, einen Fuß auf dem Rollkoffer ruhend, und ließ maulfaul ein paar Phrasen los, von denen diese noch die erhellendste war: "Die Enttäuschung ist natürlich groß bei uns."

Das war sie tatsächlich nach diesem Abend, was nur allzu nachvollziehbar war. Die Österreicher hatten eine derart brillante EM-Qualifikation gespielt, dass der eine oder andere sich sogar bemüßigt fühlte, sie zum Geheimfavoriten des Frankreich-Turniers zu erklären: "Viel gerühmtes Österreich" hieß es zuletzt nicht nur in der Hymne des schönen Landes, sondern in vielen Fußball-Fachmagazinen des Kontinents. Die Realität war am Dienstag eine andere. Nach dem Auftakt der Gruppe F haderten die Österreicher vor allem darüber, dass sie einen "Hätt i, tat i, warat i"-Moment verpasst hatten.

David Alaba beschwert sich beim Schiedsrichter. (Foto: Vassil Donev/dpa)

Ins Hochdeutsche übersetzt: "Hätte ich (das getan), dann tät ich (nun) und wäre (daher) dies." Sein persönliches "Hätt i,-tat i, warat i"-Erlebnis hatte David Alaba nach nur 31 Spielsekunden: Er jagte den Ball mit links an den Pfosten des Tores, das der ungarische Balou mit der ausgebeulten Jogginghose hütete, Gabor Kiraly. Hätte Alaba in diesem Moment getroffen, wäre er jetzt Rekordspieler: Der schnellste Torschütze der EM-Geschichte ist der Russe Dimitri Kiritschenko, seit er bei der EM 2004 nach 67 Sekunden gegen den späteren Europameister Griechenland traf.

Das Spiel hätte ein frühes 1:0 für Österreich gewiss verändert: "Mit ein bisserl mehr Glück geht der Ball rein, dann hätte es ganz anders ausgeschaut", sagte Alaba treffend. Stattdessen trafen Adam Szalai (Alaba: "Ein Stich ins Herz") und Zoltan Stieber für die Ungarn, in der 61. beziehungsweise in der 87. Minute.

Das Gruppenfinale gegen Island weckt böse Erinnerungen an Österreichs Färöer-Pleite

Zu allem Übel sehen sich die Österreicher vor dem nächsten Spiel um wichtige Kräfte gebracht: Innenverteidiger Aleksandar Dragovic sah in der 66. Minute Gelb-Rot ("Das hat unser Spiel komplett z'sammenghaut", fand der künftige Leverkusener Julian Baumgartlinger), er ist damit erst einmal gesperrt. Und Mittelfeldspieler Zlatko Junuzovic (Werder Bremen), der das das Stadion auf Krücken verließ, wird wegen einer schweren Knöchelblessur fehlen. So musste sich, zusammengefasst, Österreichs zuletzt gefeierter Trainer Marcel Koller plötzlich mit Sigmund Freuds Verdrängungskonzept vertraut machen. Darin geht es um die Verschiebung schmerzlicher Erfahrungen ins Unterbewusste. Und das macht nach allgemeiner Überzeugung das Überleben erst möglich.

Zu den weiteren Problemen, die im Spiel gegen Ungarn sichtbar wurden, zählte die Nervosität, die sich nach gutem Beginn einschlich: "Wir haben die Bälle immer wieder unnötig verloren, das kostet Kraft", monierte Koller. Und ein weiteres Problem war die Frage, ob Alaba wirklich seine Position gefunden hat. Er ist der mit Abstand beste österreichische Spieler, nahezu jede gute Aktion war auf ihn zurückzuführen. Umgekehrt verfiel Österreich in jenen Momenten in größte Zweifel, in denen Alaba wie einer wirkte, der nach dem richtigen Betätigungsfeld suchte.

Alaba ist bekanntermaßen einer der vielseitigsten Spieler des FC Bayern, Trainer Pep Guardiola setzte den Linksfuß in seiner Not sogar als Innenverteidiger ein. "Das erlaubt mir, meine Palette zu erweitern, ein kompletter Spieler zu werden. Es ist ideal für meine Entwicklung als Spieler und als Mensch", sagte Alaba in einem Interview mit France Football. Darin bekannte er auch, dass er am liebsten im Mittelfeld agiert, in Aspach, nahe Wien, habe man ihn genau dafür ausgebildet. In der österreichischen Nationalelf habe er unter Beweis gestellt, "dass ich das kann" - und festgestellt, dass er im Zentrum des Feldes "einen größeren Einfluss auf das Spiel meiner Mannschaft nehmen kann". Grundsätzlich dürfte Trainer Koller das unterschreiben. Doch am Dienstag, im Pressesaal des Stadions von Bordeaux, begann der Schweizer Coach über die Rollenzuteilung auch zu grübeln: "Es ist halt auch so, dass Alaba bei uns im Mittelfeldzentrum spielt, und bei den Bayern in der Verteidigung. Das ist vielleicht ein kleines Problem."

Zumal, es ist keine Zeit mehr da, um Alaba in die Mittelfeldrolle besser einzuarbeiten. Am Samstag steht Österreich gegen Portugal fast schon mit dem Rücken zur Wand; im letzten Gruppenspiel warten dann die Isländer. Und wie man seit dem Desaster auf den Färöer-Inseln weiß, haben es die viel gerühmten Österreicher mit Vertretern von Eilanden eher nicht so.

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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