Novak Djokovic:Vom Grasfresser zum Guru

Novak Djokovic: Novak Djokovic beim Training in Wimbledon. Der Serbe ist gerade dabei, sämtliche Weisheiten seines Sports zu ignorieren.

Novak Djokovic beim Training in Wimbledon. Der Serbe ist gerade dabei, sämtliche Weisheiten seines Sports zu ignorieren.

(Foto: AFP)
  • Der ehemalige Weltranglistenerste betrachtet seine Karriere als nie endende Verbesserungsphase.
  • Nach seiner Triumphpase ging es bergab. Doch nach dem Turniersieg in Eastbourne wähnt er sich wieder in aufsteigender Form.

Von Barbara Klimke, London

Novak Djokovic ist mit einem Siegerlächeln in Wimbledon eingetroffen. Noch am Samstag, als seine Rivalen vor dem bedeutendsten Turnier des Jahres gemütlich die Füße hochlegten oder sich den großen Rückenmuskel durchkneten ließen, hat er sich durch einen offiziellen ATP-Wettbewerb gemüht und nach zwei Finalsätzen den Titel von Eastbourne kassiert. "Ich brauchte Matchpraxis und fand, das war eine gute Idee", sagte er vergnügt, als er etwas später als die Konkurrenz in der Umkleidekabine unter dem Centre Court angekommen war. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, dass eine derartige Turniervorbereitung selbst im mitunter kuriosen All England Club, der sich immerhin einen Bussard zur Taubenbekämpfung hält, als leicht exzentrisch gilt.

Denn heutzutage verordnen sich die besten Tennisprofis in den Tagen vor dem Zweiwochenturnier strikte Ruhe, statt sich unnötig zu verausgaben - von den täglichen Trainingseinheiten abgesehen. Die Umstellung von Sand auf Rasen, vom langsamen zum schnellen Boden, vom heißen Kontinentalsommer zum feuchten Inselklima sollte kurz vor dem ersten wichtigen Ballwechsel für die Elite abgeschlossen sein; nur Feinheiten werden noch justiert.

Zur Einordnung von Djokovics außergewöhnlichem Treiben kann folgender Fakt einen Hinweis bieten: Zwar gab es Spieler, die sowohl ein Wimbledon-Vorbereitungsturnier als auch die Championship selbst gewannen - aber niemals hat einer die große Trophäe erobert, ohne in der Woche vorher seinen müden Knochen eine Pause zu gönnen. Djokovic aber ist gerade dabei, sämtliche Bücher mit den Weisheiten seines Sports zu zerreißen; alte Statistiken halten ihn da nicht auf.

Seine schlechteste Platzierung seit acht Jahren

In der Weltrangliste wird er an Nummer vier geführt, das ist, so erstaunlich es klingt, seine schlechteste Platzierung seit acht Jahren. Binnen weniger Monate hat sich bei Djokovic, 30, der kürzlich noch Titelträger aller vier Grand-Slams gleichzeitig war, eine Wandlung vom Unbesiegbaren hin zum Unerklärlichen vollzogen. "Ich habe früher meine ganze Glückseligkeit vom Gewinn eines Tennismatches abhängig gemacht", sagte er nun in Wimbledon: "Das tue ich nicht mehr. Nicht, weil es mir eventuell gleichgültig geworden sei, das nun wirklich nicht. Ich will immer noch siegen. Aber das soll nicht mehr über das Glück in meinem Leben bestimmen."

Er gehe keinesfalls nur durch eine esoterische Phase. Vielmehr beschrieb der dreimalige Wimbledonsieger bei seiner Rückkehr an die alte Wirkungsstätte die Veränderung als "Evolution", als einen "lebenslangen Prozess". Er habe in den letzten Jahren einfach Folgendes festgestellt: "Als sich die Dinge genauso entwickelten, wie ich das immer wollte, als ich ständig gewonnen und das Tennis dominiert habe, da hätte ich glücklich und zufrieden sein müssen. Aber so ist es nicht gekommen. Es gab einige andere Sachen, die sehr wohl gelitten haben in dieser Zeit."

Djokovic trainiert jetzt mit einem Anwalt

Auf Details ging Djokovic nicht näher ein, aber es hatte zwischenzeitlich leise Gerüchte über Probleme in seiner Ehe geben, die nun als überwunden gelten; seine Frau erwartet das zweite Kind. Dass sich der Weltklassespieler mit dem Berater Pepe Imaz umgab, einem Mann, der "Liebe und Frieden" predigte, hatte ebenso für gehobene Augenbrauen gesorgt wie der Umstand, dass sich Ende 2016 die Wege von Djokovic und seinem Trainer Boris Becker trennten.

Sportlich ging es seitdem bergab. Aber es ist nicht auszuschließen, dass jemand seinen Seelenfrieden findet, auch wenn er die gelben Filzbälle reihenweise ins Netz prügelt. Falls die haarsträubende 6:7, 3:6 und 0:6-Niederlage im Viertelfinale von Paris gegen Dominic Thiem den ehemaligen Weltranglisten-Ersten Djokovic vor einem Monat gemütsmäßig schwer aus der Balance brachte, dann hat er sich das in Wimbledon jedenfalls nicht anmerken lassen. Es sei denn, man nimmt seinen Blitz-Ausflug nach Eastbourne als Indiz.

Niemand sollte sich täuschen lassen

Denn niemand sollte sich täuschen lassen: Djokovic war immer ein Mann, der hungrig ist auf Siege. Bei seinem ersten Triumph in Wimbledon 2011 stopfte er sich vor den Augen der verdutzen Zuschauer im Stadion tatsächlich eine Handvoll Rasenhalme in den Mund. Und nichts deutet bisher darauf hin, dass die Metamorphose vom Grasfresser zum Guru komplett abgeschlossen ist. Auch in Wimbledon, wo er am Dienstag auf Martin Klizan aus der Slowakei trifft, steht ihm wieder der ehemalige amerikanische Weltklassespieler Andre Agassi als Berater zur Seite, ein Mann, der mindestens genauso ergiebig wie Djokovic über die höhere Bedeutung von Service und Return philosophieren kann.

Zusätzlich hat er sich der Hilfe des früheren kroatischen Profis Mario Ancic versichert, der als Anwalt inzwischen bei Credit Suisse arbeitet und einspringen soll, wenn Agassi verhindert ist. Das klingt nicht so, als würde Novak Djocovic heute jeden Sieg verachten. Eher so, als habe er die Schwerpunkte anders gelegt. Und zudem ist er mit einem nagelneuen Silberpott nach Wimbledon gekommen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: