Niederlande vor dem Deutschland-Spiel:Huntelaaristen gegen van Persianer

Holland hat die mutmaßlich beste Offensivabteilung aller EM-Teilnehmer - und diskutiert umso aufgeregter über seinen bisher enttäuschenden Angriff um Robben, Huntelaar und van Persie. Nach der torlosen Vorstellung gegen Dänemark redet nur einer nicht mit: Nationaltrainer Bert van Marwijk.

Boris Herrmann

Vielleicht muss man doch einmal kurz den Taschenrechner bemühen, um die ganze Absurdität dieser Debatte zu begreifen. Der Debattentitel lautet bekanntlich: Die Niederlande trifft das Tor nicht. Debattengegenstand ist eine Offensivabteilung, der unter anderem Klaas-Jan Huntelaar (Schalke 04), Robin van Persie (FC Arsenal), Arjen Robben (FC Bayern) und Luuk de Jong (FC Twente) angehören. Addiert man die Pflichtspieltore, die diese vier Spieler in der vergangenen Saison in ihren Klubs erzielt haben, landet man bei: 132. Noch einmal zum mitschreiben: Vier Männer, eine Saison, einhundertzweiunddreißig Tore.

Denmark's Andersen is challenged by Netherlands' Huntelaar and van Persie during their Group B Euro 2012 soccer match at the Metalist stadium in Kharkiv

Sturmduo van Persie (r.) und Huntelaar (l.): Torlos gegen Dänemark  

(Foto: REUTERS)

Demgegenüber steht jetzt also dieses skurrile Torchancenfestival gegen Dänemark. In dessen Verlauf schossen die Niederländer 28 Mal aufs gegnerische Tor, trafen aber kein einziges Mal. Am Ende schlichen sie mit einem 0:1 vom Platz, und das hat gleich zweierlei dramatischer Auswirkungen. Erstens: Die Mannschaft muss am Mittwoch gegen Deutschland unbedingt punkten, um nicht am Donnerstag schon wieder ans Heimfahren denken zu dürfen. Zweitens: Die Niederlande verstehen die Welt nicht mehr. Und sich selbst noch viel weniger.

Das erste Problem ist sogar noch überschaubar. Ausscheiden ist nie schön, gegen den deutschen Dauerrivalen noch viel weniger. Aber darauf kann man sich immerhin mit bewährten Methoden vorbereiten. So hat etwa die niederländische Stadt Kerkrade, die an die deutsche Stadt Herzogenrath grenzt, für Mittwoch eine Notverordnung erlassen.

Polizisten stehen in Bereitschaft, um für den Fall der Fälle zwischen jubelnden und trauernden Nachbarn zu vermitteln. Dem anderen Problem ist deutlich schwerer beizukommen. Es besteht darin, dass sich der EM-Teilnehmer mit der mutmaßlich besten Offensive die mutmaßlich größte Offensivdiskussion seit der Erfindung des Tornetzes eingefangen hat.

Das Land ist zunächst einmal in van Persianer und Huntelaaristen gespalten. Die einen sagen: Der Torschützenkönig der Premier League muss spielen! Die anderen entgegnen: Der Torschützenkönig der Bundesliga darf doch nicht auf der Bank sitzen! Natürlich haben beide Strömungen recht, sie liegen aber auch beide daneben. Den dänischen Torwart Stephan Andersen haben beide Stürmer nicht überwinden können.

Weil van Persie aber 90 Minuten und Huntelaar nur 19 Minuten lang Torchancen vergab, scheinen die Hunterlaaristen ihre Meinungsführerschaft gerade zu festigen. Adri van Tiggelen, niederländischer EM-Held von 1988, bedient populäre Ansichten, wenn er sagt: "Es ist an der Zeit, dass Klaas-Jan Huntelaar vorne beginnt. Ich habe die Schnauze voll von van Persie."

Mit derselben Aufstellungs-Innovation liebäugelt übrigens auch der neue DFB-Beckenbauer Mats Hummels, wenn auch auf Basis ganz anderer Interessen: "Gegen Huntelaar habe ich diese Saison sehr erfolgreich gespielt, gegen van Persie eher nicht." Van Persie traf in den beiden Champions-League-Spielen drei Mal gegen Dortmund. Huntelaar schoss in den Revierderbys mal ausnahmsweise gar kein Tor. Tatsächlich haben auch van Persianer, deren Herz orangefarben schlägt, gute Argumente auf ihrer Seite.

Kläglich verstolpert

Der Angreifer vom FC Arsenal passt theorietaktisch besser zum niederländischen Spiel, weil er kein reiner Strafraumstürmer ist, sondern sich oft ins Mittelfeld zurückfallen lässt, um Spielmacher Wesley Sneijder zu assistieren. Das klappte auch gegen Dänemark zum Teil vorzüglich. Vor allem deshalb konnte sich die Elftal überhaupt so viele Großchancen herausarbeiten, um sie dann anschließen kläglich zu verstolpern.

Selbstredend darf in einer solch wegweisenden Debatte auch Hollands lebender Fußballgott Johan Cruyff nicht fehlen. Es macht die Sache aber keineswegs unkomplizierter, dass er sich an die Spitze einer Fraktion stellt, die einen dritten Weg propagiert. Einen, der nicht oder, sondern und sagt, der sowohl van Persie als auch Huntelaar einen Platz in der Startelf bietet. Demzufolge würde der Schalker Angreifer die Sturmspitze übernehmen, van Persie dahinter spielen und Sneijder anstelle von Barcelonas Ibrahim Affelay auf die linke Seite rücken.

Zu den wenigen Menschen, die sich an dieser Diskussion bislang nicht beteiligt haben, gehört ausgerechnet der niederländische Nationaltrainer Bert van Marwijk. "Sie können mich noch so oft zur Aufstellung und Taktik befragen, ich werde dazu nichts sagen", wiederholt er mit wachsendem Unmut.

Womöglich hängt es auch mit van Marwijks Laune zusammen, dass die Mannschaft zum Wochenbeginn in ihrem EM-Camp in Krakau größtenteils von der Außenwelt abgeschottet wurde. Es gab weder ein öffentliches Training für die vielen Oranje-Fans in der Stadt noch eine Pressekonferenz. Für die wenigen Interviewtermine waren ausschließlich ausgewählte, niederländische Journalisten zugelassen.

Draußen vor der Tür schlugen die Personal-Debatten dafür umso höhere Wellen. Auch das rustikale Sechser-Pärchen Nigel de Jong und Mark van Bommel steht in der Kritik der Ratschlaggeber-Schar. Das Volk sehnt sich fürs zentrale Mittelfeld nach der Inspirationskraft von Rafael van der Vaart.

Und Cruyff, der dem Oranje-Volk traditionell aus der Seele zu sprechen versteht, ist auch noch auf der Suche nach einem Stammplätzchen für den gelernten Stürmer Dirk Kuyt. "Wenn es nach mir ginge, würde er als Rechtsverteidiger auflaufen", sagte Cruyff der Zeitung Algemeen Dagblad. Es geht allerdings einzig und alleine nach Bert van Marwijk. Und der ist offenbar wild entschlossen, auch gegen Deutschland ein paar Abwehrspieler einzusetzen.

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