Niederlande-Sieg gegen Spanien:"Es hätten sieben oder acht Tore sein können"

Fußball-WM, Robin Van Persie, Niederlande, Spanien

Fliegender Holländer: Robin Van Persie bestaunt sein Zirkus-Tor gegen Spanien

(Foto: AFP)

Mit Argwohn hatte die Heimat die Niederländer zur Fußball-WM verabschiedet. Dann verpasst Louis Van Gaals Mannschaft Weltmeister Spanien eine historische Abreibung. Auf ihre übliche Überheblichkeit verzichten die Niederländer nun weitgehend - und sogar der selbstbewusste Trainer mahnt.

Von Thomas Hummel, Salvador

Der große Louis van Gaal war tatsächlich überrascht. Der 62-Jährige streckte seinen bereits sehr langen Hals noch ein wenig nach oben, spitzte die Lippen und erklärte: "Wir haben fünf Tore geschossen, wir haben eins gekriegt. Das war nicht das, was wir erwartet hatten, um ehrlich zu sein."

Bescheidenheit ist kein bevorzugter Wesenszug des Louis van Gaal. Gerade hatte seine niederländische Nationalmannschaft gegen den aktuellen Welt- und Europameister Spanien 5:1 gewonnen, der stolze Trainer musste zugeben, dass er dies nicht vorhergesehen hatte. Es war allerdings das letzte, was er an diesem Abend zugab.

Die Meinung des Volkes ist ihm egal

Die Heimat hatte van Gaal und seinen Kader mit Misstrauen nach Südamerika verabschiedet. Wäre Van Gaal ein Kapitän im 17. Jahrhundert gewesen, die Leute hätten ihn ob seiner Mannschaft und der Art und Weise, wie Van Gaal segeln ließ, noch am Hafen ausgelacht und ein Kentern knapp hinter Belgien prophezeit. Doch die Meinung des Volkes wäre dem Seefahrer Van Gaal genauso egal gewesen wie dem Fußballtrainer Van Gaal. Ein bevorzugter Wesenszug dieses Mannes ist das Selbstvertrauen.

Aus der immer schön spielenden Elftal mit ihrem offensiven 4-3-3-System und zwei Außenstürmern hatte er vor der WM eine wehrhafte Kontertruppe im 5-2-3 geformt. Mangels Alternativen beauftragte er sieben Fußball-Arbeiter mit der Defensive, vorne sollten die letzten drei verbliebenen Künstler für Unterhaltung und den Sieg sorgen. Die Ästheten zu Hause wandten sich ab, vor allem Van-Gaal-Feind Johan Cruyff zeterte.

Selten hat ein Spiel einem zuvor kritisierten Trainer so recht gegeben. Van Gaals Plan ging auf. Hier und da war ein bisschen Glück nötig. Aber wer braucht das nicht gegen den Weltmeister.

Nach dem Spiel nahm Van Gaal die Gelegenheit wahr, noch einmal auf seinen Plan hinzuweisen. "Wie wir Tore geschossen haben, hatte ich vorhergesehen. Das hat etwas mit Strategie zu tun." Hinzu kamen Enthusiasmus und der Wille der Spieler, dieses Konzept umzusetzen.

Er sei sicher gewesen, verkündete er, dass es die Spanier mit Pressing und Kurzpässen versuchen würden. Für diese Erkenntnis hätte Van Gaal kaum einen Entdeckerpreis erhalten. Für sich darf er lediglich beanspruchen, das wirksame Gegenmittel entwickelt zu haben. "Es ist sehr schwer, so gegen eine gute Defensive zu spielen", sagte er, "du kannst nicht schnell passen, weil wir so kompakt stehen. Das haben wir fantastisch gemacht."

Mitte der ersten Halbzeit deutete vieles darauf hin, dass sich das spanische System durchsetzen würde. Nach dem Elfmeter von Xabi Alonso führte der Titelverteidiger 1:0 (27. Minute), vor allem David Silva hatte bis zur Pause ein paar gute Möglichkeiten auf das zweite Tor. Dann schoss Daley Blind den Ball kurz vor der Halbzeit 50 Meter in den freien Raum zwischen Abwehr und Torwart. Dort drehte Robin van Persie mit einer Aktion das Spiel.

"Ich habe ein wenig gezockt"

"Es war ein brillantes Tor. Ich habe ein wenig gezockt, hatte aber gesehen, dass Casillas weit vor dem Tor stand. Es war ein Kopfball, aber eigentlich ein Lupfer-Kopfball", sagte der Torschütze. Es war wahrlich eine Zirkusnummer, die er da aufgeführt hatte. Anschließend sprintete er über den halben Platz Richtung Ersatzbank, wo er auffallend intensiv mit Van Gaal abklatschte. "Ein Spieler muss das nicht tun, er kann auch zu seinen Mitspielern laufen. Es war wundervoll und emotional", sagte der Trainer später.

Eine Expedition in eine neue (Fußball-)Welt lebt davon, dass die Mannschaft auf und unter Deck zusammenhält, dass keine Meuterei ausbricht. Gerade die Niederländer können auf eine reichhaltige Geschichte an Aufständen zurückblicken. Da ihnen vor der laufenden WM wenig zugetraut worden war, hat sich auf dem Weg nach Brasilien wahrscheinlich eine enge Gemeinschaft gebildet. Die meisten Spieler sind zu unerfahren, als dass sie große Ansprüche anmelden. Van Persie, Robben und Sneijder sind allesamt 30 Jahre alt, haben die Eskapaden hinter sich gelassen und geben die Anführer.

Auf dem Platz kam den drei die Aufgabe zu, nach Ballgewinn die Konter ins Ziel zu bringen. Sie setzten das Vorhaben teilweise genial um. Auf Van Persies Geniekopfball folgte Arjen Robbens Akrobatiknummer. Wieder ein langer Ball von Blind, Robben kontrollierte den Ball im Sprung, versetzte zwei Gegenspieler und schoss das 2:1 (53.). Konter um Konter rollte nun in Richtung spanische Abwehr. Beim 3:1 von Stefan de Vrij half allerdings der Schiedsrichter mit - Van Persie hatte Spaniens Torwart Iker Casillas klar im Luftraum behindert. Robben und Van Persie und Robben vollendeten weitere überfallartige Angriffe zum 5:1. "Am Ende hätten es sechs, sieben oder acht Tore sein können", behauptete Van Persie. Niemand widersprach.

Diese zuletzt unterschätzte niederländische Elf mit ihrem selbstbewussten Trainer ist die erste Mannschaft der WM-Historie, die einem Titelverteidiger eine derartige Abreibung verpasst hat. Es dürfte auch die erste Mannschaft sein, die bei einer WM nach dem ersten Gruppenspiel eine Ehrenrunde gegangen ist. Während die Spanier in den Kellern der Arena Fonte Nova um Fassung rangen, ließen sich die Sieger auf dem Rasen von den mitgereisten Anhängern bejublen. "Dafür spielt man Fußball. Genießen, genießen, genießen", frohlockte Robben.

Ist das schon die Überheblichkeit, mit der die Niederländer bereits einige Male untergingen in ihrer Turniergeschichte? Robben bat noch vor dem Umziehen in der Kabine die Mitspieler um Mäßigung, berichtete Van Gaal. "Wir haben einige, die sicherstellen, dass wir nicht abheben", sagte der Trainer. Van Persie stimmte zu: "Es sind nur drei Punkte. Ich habe das schon erlebt, es ist mein fünftes Turnier. Ich möchte nicht, dass wir zu begeistert sind." Van Gaal ergänzte: "Wir mussten diesmal nicht das Spiel machen, gegen Australien wird es ein ganz anderes sein."

An Selbstvertrauen wird es den Niederländern allerdings nicht mehr mangeln. Alle Spieler scheinen körperlich fit zu sein, was in der Schwüle von Salvador sicherlich kein Nachteil war, vor allem in der zweiten Hälfte. An einem bis ins Detail ausgearbeiteten Plan des Trainers mangelt es auch nicht. Am Morgen vor dem Spiel durften die mitgereisten Frauen und Kinder noch einmal zu den Spielern. "Ich sehe das ganze Bild", sagte Van Gaal, "auch den psychologischen Einfluss des Umfelds." Die Familien hätten sich treffen dürfen, denn "das macht die Spieler froh". Wer 5:1 gewinnt, der hat alles richtig gemacht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: