EM-Qualifikation:Für die Niederlande geht es zurück auf null

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Fassungslos: Wesley Sneijder in der EM-Qualifikation

(Foto: AFP)

Von Ulrich Hartmann

Die Niederlande gehören zu den zehn wichtigsten Handelspartnern Islands. Es geht dabei vor allem um Aluminium und Fisch. Weniger um Fußball. Am Dienstagabend könnten die Niederländer die Hilfe der Isländer gut gebrauchen, aber in dieser Angelegenheit haben Wirtschaft und Politik keinen Einfluss. Nur die isländischen Fußballer können den Niederländern jetzt noch helfen, die Europameisterschaft 2016 in Frankreich zu erreichen. Die Niederlande müssen in Amsterdam gegen Tschechien gewinnen und die Türken müssten zeitgleich daheim in Konya gegen Island verlieren - nur dann würden die Niederlande als Gruppendritter doch noch zwei Playoff-Spiele erreichen, in denen sie sich für die EM qualifizieren könnten. Den Türken genügt gegen die bereits qualifizierten Isländer ein Unentschieden, um sich diesen dritten Gruppenplatz und die Teilnahmeberechtigung für die Playoffs zu sichern. Es sieht nicht gut aus für die Niederlande. Es sieht vielmehr so aus, als sollten sie nach der EM 1984 und den Weltmeisterschaften 1986 und 2002 zum vierten Mal ein großes Turnier versäumen.

Es war im kasachischen Astana bereits 2.04 Uhr am Sonntag in der Früh und die Niederländer harrten dort im Hotel der Entwicklungen im 3900 Kilometer entfernten Prag, als die Türken in der tschechischen Hauptstadt mit 1:0 in Führung gingen und jene Hoffnungen pulverisierten, die die Niederländer mit ihrem 2:1-Sieg in Kasachstan zuvor gewonnen hatten. Um 2.22 Uhr kasachischer Zeit erhöhten die souveränen Türken gegen maue Tschechen auf 2:0, gewannen dann auch mit diesem Ergebnis und haben die Bedingungen für den Showdown am Dienstagabend deutlich zu ihren Gunsten verschoben. Die Hoffnungen der Niederländer sind schon am Nullpunkt.

Und so hatte man bereits am Samstagabend in Astana das Gefühl, die Niederlande hätten auf null gestellt und am jüngsten Tiefpunkt ihrer Fußballhistorie vorzeitig einen Neuanfang eingeleitet. Weil einige wichtige Nationalspieler wegen Verletzungen, Sperren oder anderer Probleme fehlten, berief Bondscoach Danny Blind in die Startformation drei Nationalmannschafts-Debütanten und vier Spieler, die 21 Jahre alt oder jünger sind. Mit den Neulingen Kenny Tete (20 Jahre, Ajax Amsterdam) und Virgil van Dijk (24, Southampton) sowie dem 19 Jahre alten Jairo Riedewald (Ajax) in seinem zweiten Länderspiel besaß die Viererabwehrkette gerade einmal die Erfahrung von zwölf Länderspielen, und für elf davon war allein der Innenverteidiger Jeffrey Bruma (PSV Eindhoven) zuständig. Mit dem offensiven Rechtsaußen Anwar El Ghazi (20, Ajax) spielte ein dritter Neuling mit, und zehn Minuten vor Schluss wurde mit dem Torwart Jeroen Zoet sogar noch ein vierter Debütant eingewechselt. So etwas nennt man Generationswechsel. Zoet allerdings kam ungeplant für den verletzten Torwart Tim Krul, der zum Spielbeginn wiederum nur deshalb im Tor stand, weil sich der Stammkeeper Jasper Cillessen beim Aufwärmen verletzt hatte.

"Wir gehören nicht mehr zu den besten Teams der Welt"

Trainer Blind haderte hernach vor allem mit den vielen Verletzten. Sie geben ihm Gelegenheit, davon abzulenken, dass diese Mannschaft weder unter seinem Vorgänger Guus Hiddink noch unter ihm und auch nicht im Vollbesitz ihrer personellen Kräfte seit dem vergangenen Sommer in der Lage war, ein taktisch präzises und leidenschaftlich anmutendes Spiel aufzuziehen. "Wir vermissen mittlerweile 15 Spieler", klagte Blind, "es ist extrem."

Tatsächlich führte die Situation beim 2:1-Sieg, zu dem keine besonders gute Leistung erforderlich war, zu einem personellen Durcheinander, aber das Durcheinander in der Nationalmannschaft und im Verband wird ab Mittwoch vermutlich noch größer, sollten die Fußballer die EM dann auch de facto versäumen. Blind wird seinen Posten nach gerade einmal vier Länderspielen kaum behalten, und für einige der altgedienten Nationalspieler dürfte eine Ära zu Ende gehen. Eine EM zu versäumen, ist für einen Verband wie den Königlich-Niederländischen Fußball-Bund (KNVB) der schlimmste aller Albträume, zumal sich die Nationalmannschaft vor gut einem Jahr als WM-Dritter in Brasilien noch als eine der besten Mannschaften der Welt präsentiert hatte.

Doch der Trainerwechsel von Louis van Gaal zu Guus Hiddink und damit die Rückkehr von van Gaals 5-3-2-System zu Hiddinks traditionellem niederländischem 4-3-3 hat sich als falsch erwiesen. Daran konnte auch der weitere Trainerwechsel von Hiddink zu Blind vor drei Monaten nichts ändern. In ihren neun Qualifikationsspielen haben die Niederländer bloß je zwei Mal gegen Kasachstan und Lettland gewonnen. Zwei Niederlagen gegen Island sowie je eine gegen die Türkei und gegen Tschechien haben das Team bereits so gut wie eliminiert. "Wir gehören nicht mehr zu den besten Teams der Welt", sagt ernüchtert der Kapitän Arjen Robben, der die derzeit entscheidenden Spiele verletzt versäumt.

Nur leise Freude herrschte in Prag bei den Türken über die bevorstehende Qualifikation für die Playoffs, weil die Mannschaft unter dem Eindruck der Bombenexplosionen in Ankara steht, bei dem rund 100 Menschen ums Leben kamen. "Es war schwer, sich auf Fußball zu konzentrieren", sagte der für Bayer Leverkusen spielende Hakan Calhanoglu, erklärte damit aber auch die gute Leistung: "Wir haben für unsere Landsleute gespielt."

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