Nationalspieler des FC Bayern:Joachim Löw, Beruf: Therapeut

Die Europameisterschaft wird für die Spieler des FC Bayern ein Therapieturnier. Die Frage ist, ob die Therapie des Bundestrainers Löw anschlägt - und ob die Dortmunder die Bayern hochziehen. Oder die Münchner die Dortmunder mit hinabreißen in ihr Seelenloch.

Klaus Hoeltzenbein

Jetzt also zur Europameisterschaft. Tränen trocknen, Wunden lecken - und dabei schon wieder unterwegs mit schwerem Gepäck: Vize in der Meisterschaft, Vize im Pokal, Vize in der Champions League. Vize, Vize, Vize. Kein regenerativer Urlaub, in dem das alles zu begreifen, zu verarbeiten wäre. Stattdessen die nächste Gefahr für grandioses Scheitern, die überall lauert, wo ein großes Turnier aus der Favoritenrolle heraus bestritten werden darf oder muss.

Ein Autofahrer, empfehlen die Psychologen, soll nach einem Unfall schnellstmöglich wieder hinters Steuer, damit sich die Angst im Kopf nicht verstärkt und zur Blockade wird. Also weiter - immer weiter, immer weiter? Diese simple Formel wird oft zitiert, aber gerade weil sie so simpel ist, nennt sie einen der wenigen Wege, auf denen sich ein Fußballer vom Stakkato des Vize, Vize, Vize befreien kann. Ein Weiter-weiter-weiter schlummert ja auch tief im Mythenschrank des FC Bayern.

Es basiert auf den Erzählungen des Oliver Kahn über seine Erfahrungen aus den Jahren 1999 bis 2001: Erst das verlorene Last-Minute-Finale gegen Manchester United, zwei Jahre darauf der späte Triumph mit dem Endspielsieg gegen den FC Valencia.

So schnell wird es dieses Mal vermutlich nicht gehen, der Generation um Schweinsteiger & Lahm steckte bereits das verlorene Endspiel von 2010 gegen Inter Mailand in Gemüt und Knochen. Aber das war leichter zu verkraften, weil jenes Spiel relativ klar gelaufen ist, jetzt ist die Fallhöhe eine andere. Auch deshalb ist so eine EM wohl besser als ein Grübel-Urlaub.

In jedem Fall wird es ein Therapieturnier; die Frage ist, ob die Therapie des Bundestrainers Löw anschlägt - und ob die Dortmunder die Bayern hochziehen, oder die Münchner die Dortmunder mit hinab reißen in ihr Seelenloch. Auch deshalb wird der FC Bayern erst im Laufe der EM erfahren, wie tief der Schock aus diesem Elfmeterschießen sitzt.

Uli Hoeneß hat geweint, wie man ihn nie zuvor öffentlich weinen sah. Da ist die Trauer über die Chance, die so bald nicht wiederkommt, ein Endspiel im eigenen Wohnzimmer gewinnen zu können. Da ist aber auch die Gewissheit, nun tief und mit Millionen ins Gefüge der Mannschaft einwirken zu müssen, um sie wieder auf stabile Beine zu stellen.

Immerhin definiert sich dieser Klub historisch nur über Titel - in einem Spiel, in dem Gerechtigkeit kein Maßstab ist und Brillanz keine Preiskategorie. Fußball ist Archaik pur. Das hat dieser Samstag, der 19. Mai 2012, brutalstmöglich bestätigt.

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