Nationalmannschaft bei der Fußball-EM:Löw hat sich seiner Optionen beraubt

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Hat Bundestrainer Löw seinen EM-Kader künstlich klein gehalten? Einige Spieler, die zu Hause bleiben mussten, fehlen ihm jetzt.

Kommentar von Christof Kneer

Von der Verleihung des Günter-Hermann-Gedächtnispreises ist in den Medien in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrmals berichtet worden, unseriöserweise, wie man wohl einräumen muss, weil kein Journalist je bei der Verleihung dieses Preises dabei war. Keiner hat diesen Preis je gesehen, keiner weiß, ob er aus Gold, Silber oder Ballonseide besteht, ob er am Bande getragen wird oder ob es sich bei diesem Preis vielleicht sogar um ein Sportfachgeschäft in Osterholz-Scharmbeck handelt.

Letzteres gilt als nicht unwahrscheinlich, denn der Namenspatron des Günter-Hermann-Preises, Günter Hermann, führt so ein Geschäft seit den Neunzigerjahren - das ist jenes Jahrzehnt, das mit einem WM-Titel der deutschen Nationalelf begann.

Günter Hermann ist auch ein 90er-Weltmeister, obwohl er damals keine Sekunde spielte. Seitdem steht sein Name stellvertretend für jene deutschen Nationalspieler, deren Aufgabe bei Turnieren darin besteht/bestand, gut zu trainieren und auf der Bank ein professionelles Gesicht zu machen. Günter Hermanns hat es in deutschen Turnierkadern immer gegeben, alles andere wäre ja auch unnormal: Ein Trainer, der während eines Turniers allen 23 Spielern Auslauf gibt, hätte entweder abscheuliches Verletzungspech oder irgendetwas falsch gemacht.

An Hermann musste man am Donnerstag denken, als die Stadionkameras die deutsche Bank abfuhren und dort den Gesichtern von Julian Weigl, Joshua Kimmich, Emre Can, Jonathan Tah oder Lukas Podolski begegneten. Gewiss hat jeder dieser Spieler seine speziellen Qualitäten, und vermutlich wird der eine oder andere auch noch zum Einsatz kommen. Dennoch hat der kleine Kameraschwenk zwei Erkenntnisse hervorgebracht, eine eher bekannte und eine neue.

Bekannt ist, was ja auch Joachim Löw ständig betont: dass der DFB über einen aussichtsreichen Kader verfügt, aber über keinen, von dem man dringend verlangen muss, dass er Europameister wird. Die deutsche Nationalelf kann - siehe 2014 - den größten Titel der Welt gewinnen, wenn einige Dinge zusammenkommen: klasse Spieler, gute Trainerentscheidungen, Eigendynamik, günstige Umstände, exzellente Vorbereitung, Standardsituationen, das Campo Bahia, Lahm und Klose, Götzes Gedankenblitz, kein anderes Topteam etc . . . Fehlen ein paar dieser Zutaten, kann eine DFB-Elf auch mal im Viertelfinale ausscheiden, ohne sich zwingend blamiert zu haben.

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Nach dem 0:0 gegen Polen drängt sich nun aber der Verdacht auf, dass der Bundestrainer seinen Kader womöglich künstlich klein gehalten hat. Auffällig war jedenfalls, wie schwer es Löw fiel, auf seiner Bank ein paar Spieler zu finden, denen er zutraute, der Partie Schärfe und neuen Schwung zu verliehen. Schürrle, wenn auch nicht in Topform, ist immerhin eine bewährte Spezialkraft; Gomez ist kein bewährter Joker, aber immerhin in Form.

Aber dann? Die kitschige Schweinsteiger-Story ist bereits geschrieben, und der große, alte Mann ist ja auch keiner dieser schneidigen "Eins-gegen-eins-Spieler", deren Fehlen jetzt beklagt wurde. Dieser Turnier-Option hat sich Löw selbst beraubt, als er die Verletzung von Marco Reus ohne Not mit der zusätzlichen Streichung von Karim Bellarabi und Julian Brandt flankierte. Beide waren in der Liga zuletzt in grandioser Form.

Im Moment wirkt es, als habe Löw eine Art Potemkin-Kader berufen, mit vielen schön bemalten Kulissen, denen aber eine gewisse Tiefe fehlt - jedenfalls in bestimmten Situationen. Löws Kader hat Optionen für die zentrale Defensive, aber für die offensiven Flügel, außer Schürrle, im Grunde nur eine: Leroy Sané. Den muss er jetzt nur noch einwechseln.

© SZ vom 18.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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