Nationalhymnen:Die Queen tanzt im Dreivierteltakt

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Wie stark tragen die Nationalhymnen zum Erfolg der WM-Teams bei? - Eine Spekulation.

Guido Brink

"Schuld war nur der Bossa Nova" trällerte einst Manuela - er war nämlich im gleichnamigen Schlager Anlass für eine Hochzeit.

"Einigkeit und Recht und Freiheit..." - und alle singen mit. Hilft es? (Foto: Foto: dpa)

Wenn Musik so viel bewirken kann, könnte es ja sein, dass auch die acht Mannschaften, die bei der Fußball-WM das Viertelfinale bestreiten, sich nur aufgrund ihrer Nationalhymnen durchsetzen konnten - immerhin werden diese ja vor jedem Spiel gesungen und setzen möglicherweise geheime Kräfte frei.

Was also zeichnet die acht Nationalhymnen aus? Haben sie gemeinsame Merkmale in der Melodiebildung, der Harmonik, der Textaussage, oder in ihrer Geschichte?

Viel Dur

Die Suche nach eindeutigen Beweisen gestaltet sich schwierig: Dass alle Melodien tonal gebunden sind, liegt sowohl in ihrer Entstehungszeit (meist im 18. und 19. Jahrhundert) als auch in ihrer praktischen Verwendung begründet und unterscheidet sie in nichts von den Hymnen der bereits ausgeschiedenen Mannschaften.

Melodiebildung und Harmonisierungen sind so verschieden wie die Sprachen der Texte, die Formbildung desgleichen: Von der zwei- und dreiteiligen Liedform bis zum Marsch mit Trio ist alles dabei, was eine auf maximal zwei Minuten sich beschränkende tonale Musik hergibt.

Auch das bevorzugte Tongeschlecht Dur greift nicht so recht als Kriterium: Einerseits stehen die meisten Nationalhymnen der Welt in einer Dur-Tonart, andererseits hebt ausgerechnet die Hymne der Ukraine mehrfach in Dur an, um dann doch stets in der parallelen Molltonart zu enden.

Frankreichs Marseillaise bewegt sich im Mittelteil in der gleichnamigen Molltonart, Argentiniens und Portugals Hymnen ebenso, während die deutsche und die britische Hymne ihre jeweilige (Dur-)Tonart bis auf kleine harmonische Ausweichungen mit Zwischen- oder Doppeldominanten nicht verlassen.

"Marsch-Typus"

Plausibel wäre es ja gewesen, wenn die Nationalhymnen der Viertelfinalisten allesamt dem "Marsch-Typus" angehören würden: Das Absingen eines aufputschenden Marsches als zusätzliches Stimulans wäre somit für die Spieler der garantierte Weg zum Erfolg.

Dies unterwandern aber die Hymnen der Ukrainer, Briten und Deutschen, die alle recht ruhig dahinklingen. Wie um dieser Hypothese vollständig den Garaus zu machen, hat ausgerechnet die deutsche Mannschaft - stets nach dem besinnlichen Gesang einer einst für den langsamen Variationensatz des Haydn-Streichquartetts op. 76 Nr. 3 dienenden Melodie - bei dieser WM alle ihre ersten vier Spiele souverän und kraftvoll gewonnen.

Aber haben nicht vielleicht alle Hymnen der Viertelfinalisten eine gerade Taktart (etwa 4/4 oder 2/2)? - Nein, England singt inbrünstig sein "God Save the Queen" im langsamen Dreivierteltakt und steht bei Weltmeisterschaften regelmäßig mindestens im Viertelfinale.

Und auch die Textaussagen bieten ein uneinheitliches Bild: Während Frankreich, Italien und Portugal martialisch zu den Waffen rufen, erschallt recht harmlos "Einigkeit und Recht und Freiheit" aus Deutschland, und die Briten preisen ihre "gracious queen", die Argentinier und Brasilianer dagegen die (allerdings durchaus mit Waffen errungene oder zu verteidigende) Freiheit und Unabhängigkeit ihres Landes.

"Gott erhalte Franz"

Die Entstehungsgeschichte der Nationalhymnen bietet freilich einige Überraschungen: Zahlreiche Melodien von Nationalhymnen, auch die von einigen Viertelfinalisten dieser WM, wurden gar nicht für die heute dazu gesungenen Texte komponiert, sondern erst nachträglich zu Nationalhymnen erhoben.

Dass Hoffmann von Fallersleben nur einen neuen Text zur Melodie von Joseph Haydn (ursprünglich 1797 als Kaiserhymne "Gott erhalte Franz, den Kaiser" (!) mit dem Text eines Hofpoeten geschaffen, danach noch in besagtem Streichquartett verwendet) geschrieben hat, gilt noch als bekannt.

Weniger bekannt ist, dass die Haydn-Melodie auffällige Entsprechungen unter anderem zu einem kroatischen Volkslied und einer Melodie von Georg Philipp Telemann aufweist: Das Copyright war noch nicht erfunden.

Noch diffiziler verhält es sich mit "God Save the Queen": Die Melodie (von einem ebenso anonymen Urheber wie der heutige Text) geht vermutlich auf ein patriotisches Lied des 17. Jahrhunderts zurück und wurde seitdem als Hymne in Schweden, der Schweiz ("Rufst du, mein Vaterland"), den USA und (eher inoffiziell) auch im deutschen Kaiserreich ("Heil dir im Siegerkranz") verwendet.

"Besser gut geklaut..."

Lässt sich damit schlüssig erklären, warum Duelle zwischen Deutschland und England immer so knapp enden müssen? Und das 2:2 Englands am 20. Juni gegen Schweden?

Aber damit nicht genug: Die Melodie der brasilianischen Hymne geht auf ein altes Lied des 16. Jahrhunderts zurück, der heutige Text dazu entstand erst nach 1900; auch die Autoren der argentinischen Hymne haben vermutlich ein längst vorher bekanntes Lied anderer Herkunft in die jetzige Fassung gebracht - als laute das Motto: "Besser gut geklaut als schlecht neu erfunden."

Die Melodie der portugiesischen Nationalhymne gar wurde nicht von einem Portugiesen komponiert, sondern angeblich von dem Auslandsdeutschen Alfredo Keil.

Die französische "Marseillaise" hingegen kommt als Marschlied gleichsam aus einem Guss daher: Text und Musik schuf ein Pionier-Hauptmann, es wurde beim Einzug eines Freiwilligen-Bataillons aus Marseille in Paris im Juli 1792 gesungen und schon drei Jahre später zur Landeshymne erklärt.

Fazit: Eine einschlägige Gemeinsamkeit der Hymnen aller Viertelfinalisten lässt sich beim besten Willen nicht nachweisen. Wie auch immer die Mannschaften in die Runde der letzten acht gekommen sind: Vermutlich haben doch die alten Fußballertugenden Spielstärke, Kondition, Kampfkraft und Chancenverwertung die Hauptrolle gespielt.

An den vor Spielbeginn gesungenen Nationalhymnen jedenfalls liegt es offenbar nicht. Ein weiterer Schluss liegt nahe: Wahrscheinlich war bei Manuela auch nicht der Bossa Nova schuld.

© SZ vom 1.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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