DFB-Sieg gegen Schweden:Neuville-Moment hoch zwei

World Cup - Group F - Germany vs Sweden

"Es war ein Sieg der Moral, des Nicht-Nachlassens und An-sich-Glaubens": Toni Kroos zwirbelt in der letzten Minuten einen Freistoß zum 2:1 ins Tor.

(Foto: REUTERS)
  • Nach dem denkwürdigen 2:1-Sieg gegen Schweden herrschen bei der deutschen Nationalmannschaft Freude und Erleichterung vor.
  • "Es war ein Sieg der Moral, des Nicht-Nachlassens und An-sich-Glaubens", sagt Bundestrainer Löw.
  • Die Wende im Spiel bringt ein taktischer Kniff des Trainers in der Halbzeit.
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Von Martin Schneider, Sotschi

Der ganze Wahnsinn wäre nie passiert, wenn Mats Hummels lauter schreien könnte. Er habe, erzählte er nach dem Spiel, beim Freistoß von Toni Kroos gegen Schweden in der 95. Minute, der als "der Freistoß von Toni Kroos gegen Schweden in der 95. Minute" in die deutsche WM-Geschichte eingehen wird, von der Bank aus laut gerufen, er solle den Ball flanken. Kroos wiederum sagte, er habe das nicht gehört und so geschah, was geschah: Pass Kroos, Stopper Reus, Schuss, Tor, 2:1, Rettung, Ekstase. "Da durfte ich mir gerade einiges dazu anhören in der Kabine", sagte Hummels zu seinem Ratschlag mit glückseligem Grinsen. "Damit muss ich jetzt leben."

Der Fußball, dieser Shakespeare unter den Sportarten, hat es am Samstagabend im Olympiastadion von Sotschi ein bisschen übertrieben. Die Drohkulisse eines deutschen Vorrunden-Scheiterns, der blutende Sebastian Rudy, der Rückstand nach einem Kroos-Fehlpass, die hängenden Köpfe der deutschen Spieler beim Gang in die Halbzeit, die furiose Rückkehr nach der Pause, der Ausgleich durch den in der Vergangenheit stets verletzten Marco Reus, der Platzverweis von Jérôme Boateng, das sekundennahe mögliche WM-Aus und Ende der Ära Joachim Löw - all das löste der Fußball an diesem Tag in einem einzigen rauschenden Schuss von Toni Kroos auf.

"Jeder, der in die Kabine reingekommen ist, hat geschrien"

Timo Werner, der das erste Tor vorbereitete und den Freistoß rausholte, erzählte, was nach dem Spiel in der Kabine geschah: "Es war pure Erleichterung", berichtete er und seine Mimik drückte dabei aus, was sein Mund sagte. "Jeder, der in die Kabine reingekommen ist, hat geschrien. Manche konnten gar nichts mehr sagen, weil sie so ... ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll." Er schwieg einen Moment. "Mir sind auch auf dem Platz fast die Tränen gekommen, weil es so geil war."

Es war ein Moment der Explosion. Toni Kroos rannte zur Eckfahne, weil er irgendwohin musste, Marco Reus folgte ihm, von der Bank erreichte ihn Mats Hummels als erster, dann kamen alle anderen und wollten ihn erdrücken. Kroos berichtete, er habe nur Sekunden nach der Jubeltraube daran gedacht, wie viel Zeit noch bleibt, und dass die Schweden nun bestimmt lange Bälle spielen werden und der große Boateng ja nicht mehr auf dem Platz sei - aber die Schweden spielten nur noch einen langen Ball, dann war Schluss und Kroos kniete auf dem Rasen, hämmerte mit den Fäusten dreimal auf den Boden, jeder Schlag Freude, Erleichterung, Genugtuung.

Und so konnte Kroos erzählen, wie es zu diesem Retter-Tor kam, das Deutschland vor dem ersten Vorrunden-Aus seiner WM-Geschichte bewahrte. Er sei mit Marco Reus schnell übereingekommen, dass sie nicht flanken wollten, weil die Schweden im Spiel jeden Ball aus dem Strafraum geköpft hätten. "Dann wollte Marco erst direkt schießen. Da hab' ich zu ihm gesagt: 'Hm, bin ich nicht überzeugt von'. Und dann haben wir uns für den Weg entschieden, einfach nochmal reinzuspielen, um für den Schuss einen besseren Winkel zu bekommen - und dann zu schießen."

Schon einmal explodierte eine deutsche Mannschaft in der Nachspielzeit eines zweiten WM-Gruppenspiels. 2006, beim Turnier im eigenen Land, traf Oliver Neuville in der 90. Minute gegen Polen nach Flanke von David Odonkor. Der Jubel im Dortmunder Westfalenstadion gilt seitdem als einer der lautesten in der Nationalelf-Historie, und doch ist das Polen-Spiel nicht vergleichbar mit diesem Schweden-Spiel. Denn 2006 hatten die Deutschen das erste Spiel gegen Costa Rica gewonnen und gegen Polen lagen sie weder in Rückstand, noch spielten sie in Unterzahl, noch drohte das Aus. Kroos war Neuville hoch zwei, mindestens.

"Es war ein Sieg der Moral, des Nicht-Nachlassens und An-sich-Glaubens", sagte der Bundestrainer später. Für Toni Kroos freue es ihn besonders, weil der das 1:0 durch seinen Fehlpass verschuldet habe. Worauf der Bundestrainer nicht einging: Wie höllisch knapp diese ganze Geschichte war. Man möge sich nur für eine Sekunde vorstellen, was passiert wäre, wenn Reus geschossen hätte, oder es nur vier Minuten Nachspielzeit gegeben hätte, oder, so eng war das, ein Schmetterling mit den Flügeln geschlagen hätte. Mit einem 1:1 wäre das DFB-Team zwar nicht raus gewesen, aber wenn Schweden gegen die bereits qualifizierten Mexikaner im letzten Spiel nur einen Punkt geholt hätte, dann wäre die WM-Fahrt zu Ende gewesen.

"Nach dem 1:0 waren wir eigentlich ausgeschieden"

Niemand mochte sich damit mehr befassen, nur Timo Werner blickte nochmal schonungslos in den Abgrund. "Nach dem 1:0 waren wir eigentlich ausgeschieden. Ich glaube, das kann man so sagen", sagte er. "Die Köpfe bis zur Halbzeit sind nicht mehr arg weit höher gekommen als Kniehöhe und es war schon ein bitterer Moment."

Dabei begann die Partie so gut, das Team erspielte sich Chancen, man hätte schon vor dem Gegentor "zwei, dreinull führen müssen", sagte Werner, was nur ein bisschen übertrieben war, aber Deutschland startete absurd überlegen, spielte 122 Pässe, Schweden in dieser Zeit sechs. Dann holte das Mexiko-Spiel Deutschland ein, Antonio Rüdiger verdribbelte sich in der zwölften Minute als letzter Mann, Marcus Berg lief alleine auf das Tor zu und Jérôme Boateng stoppte ihn mit einem Schubser. Mit Pech hätte das Rot und Elfmeter geben können.

Ab dieser Szene war das Selbstvertrauen weg. Und als Ola Toivonen nach dem verheerenden Fehlpass von Toni Kroos das 1:0 machte - da schien das Team gebrochen. Jeder Spieler wartete einzeln auf dem Feld auf den Anstoß, bis die Schweden mit Jubeln fertig waren. Nur Manuel Neuer tat etwas, ruderte mit den Armen, feuerte die Mannschaft an. Es war der Moment, als die Köpfe auf Kniehöhe hingen - um es mit Timo Werner zu sagen.

Ob der Bundestrainer in der Pause laut geworden sei, wollte ein Reporter von Werner wissen. "Er ist schon lauter geworden, aber nicht negativ, sondern eher positiv. Er hat gemerkt, dass wir gut im Spiel waren und dass es dann ein Fehler war, der zum Tor geführt hat." Der Schlüssel sei gewesen, dass man in der zweiten Halbzeit nicht die Nerven verloren habe, sagte Löw dazu auf der Pressekonferenz.

Werner macht auf der linken Außenbahn das Spiel seines Lebens

Was er nicht sagte, war, dass er die Mannschaft umstellte - Mario Gomez kam für Julian Draxler und rückte ins Sturmzentrum, Timo Werner auf den Flügel. Es war ein taktischer Kniff, der in den Bildern des Freistoßes untergehen wird, aber der die eigentliche Wende brachte. Denn Werner machte das Spiel seines Lebens auf der ungewohnten linken Außenbahn, gewann jeden Sprint, bereitete das 1:1 durch Marco Reus vor. Hummels, der wegen seiner Halswirbelverletzung auf der Bank das Spektakel aus nächster Nähe beobachten konnte, sagte: "Mit dem Gefühl, dass Timo über links heute jeden ausspielen konnte, haben wir immer dran geglaubt."

Das DFB-Team hätte zu dem Zeitpunkt die einfache Ausfahrt nehmen können, aber das zweite Tor wollte nicht fallen. Stattdessen konterten die Schweden wieder und Jérôme Boateng flog vom Platz. Als der Abwehrchef geprügelt vom Feld ging, wechselte Löw erneut mutig, brachte Julian Brandt für Jonas Hector und als dessen Schuss Minuten nach der monumentalen Kopfball-Chance von Mario Gomez auch noch an den Pfosten klatschte, da schien die Geschichte auserzählt.

Als letzter kam an diesem denkwürdigen Abend Manuel Neuer aus der Kabine. Vielleicht lag es daran, dass er schon die längste Zeit Abstand zum Spiel hatte. Aber Neuer war nachdenklicher als die anderen. Man sei schon wieder einem Rückstand hinterhergelaufen, das sei mental brutal schwer gewesen - aber klar, man könne stolz sein. Ob das nun die Inititalzündung gewesen sei, war eine Frage, die die Journalisten allen stellten, alle bejahten sie, aber Neuer sagte: "Es hätte auch sein können, dass das 0:1 gegen Mexiko etwas bewirkt." Und mit Blick auf das Mannschaftgefüge: "Wie wir am Schluss zusammen gefeiert haben, das war ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung." Sprach es und ging, weil der DFB-Sprecher ihn Richtung Bus schob, der Flieger flog noch in der Nacht.

Am Mittwoch spielt Deutschland gegen Südkorea, ein Sieg reicht sehr wahrscheinlich fürs Achtelfinale. Welche Geschichte der Fußball ab jetzt für dieses deutsche Team schreibt? Auch da fand Timo Werner die schönsten Worte. "Das muss der Wendepunkt gewesen sein. Wenn wir die Steilvorlage nicht annehmen und damit durchs Turnier reiten", er schwieg wieder kurz, "dann hat dieses ganze Spiel heute nichts gebracht."

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