Nationalelf:Der größte ungehobene Schatz im Kader

Mesut Özil

Der Islam gehört zur deutschen Nationalmannschaft - zum Beispiel, wenn Mesut Özil spielt.

(Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

Mesut Özil hat die vielleicht beste Saison seiner Karriere gespielt. Bei der WM in Brasilien war er noch keiner der prägenden Spieler. Das stört ihn, obwohl er es niemals zugeben würde.

Von Christof Kneer, Ascona

Es sei schon wichtig, die letzten Spiele vor der Europameisterschaft zu gewinnen, damit man "mit Selbstvertrauen nach Frankreich fahren" könne: Das hat Mesut Özil im Trainingslager im Tessin gesagt. Es war nur so ein Satz, dahingesagt von einem Fußball-Profi, der schon tausende solcher Sätze gesagt hat, Mesut Özil konnte unmöglich ahnen, dass dieser Satz ihn so bald einholen würde. Es ist nämlich so, dass Özil jetzt eine Niederlage erlitten hat, eine besonders bittere im Übrigen, nach Elfmeterschießen. Firtinaspor Gelsenkirchen hat den Aufstieg in die Bezirksliga verpasst, woran die Spieler Mutlu und Serdar Özil leider gar nichts ändern konnten. Der Bruder und der Cousin von Weltmeister Mesut Özil mussten am Ende den Spielern des BV Rentfort gratulieren, und es blieb nicht mal der Trost, dass sie wenigstens die prominenteren Namen in die Wertung bringen konnten. Für Rentford traf im Elferschießen Patrick Draxler, der Bruder des Weltmeisters Julian Draxler.

Das könnte nun bedeuten, dass Mesut Özil mit etwas weniger Selbstvertrauen in die EM startet, aber noch ist nicht alles verloren. Es folgt ja noch ein weiteres Spiel in seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, am Samstag spielt die Nationalelf gegen Ungarn, und nach letzten Erkenntnissen werden dabei nicht Mutlu und Serdar, sondern es wird schon Mesut Özil auflaufen. Er hat also noch mal 90 Minuten Zeit, um sich jenes gute Gefühl zu besorgen, das ein Gefühlsspieler wie er für ein Turnier braucht. Wobei: Es gab Moment in Özils Karriere, da wäre die Besorgung eines gutes Gefühls dringender gewesen. Zurzeit hat Mesut Özil ja eh schon eines.

Özil, 27, kommt aus einer Saison, die er selbst als "die beste und stabilste meiner Karriere" bezeichnet. Er hat in dieser Saison zwar ein paar Niederlagen erlitten, aber keine war so groß wie ein verpasster Bezirksliga-Aufstieg. Seine Niederlagen waren kleine Siege: Er ist mit dem FC Arsenal nicht Meister, aber immerhin Zweiter in der Premier League geworden. Und er hat den Vorlagenrekord von Thierry Henry zwar nicht gebrochen, aber er ist ihm nahe gekommen wie kein Spieler seit der Saison 2002/03. Dem großen Henry gelang es damals, 20 Tore vorzubereiten; der auch nicht kleine Özil hat es auf 19 gebracht.

Mesut Özil ist ein Weltstar, wie man so sagt, und trotzdem ist er so etwas wie der größte noch ungehobene Schatz im Kader von Joachim Löw. Wer im Kopf noch mal die großen Bilder der WM in Brasilien durchblättert, der stößt auf Götzes Tor und Neuers Paraden, der zählt Schweinsteigers Wundmale oder die zehntausend Pässe von Toni Kroos, von denen, falls man sich nicht verzählt hat, etwa zehntausendundzwei ankamen. Das große Mesut-Özil-Bild fehlt. Mesut Özil stört das, aber er würde das niemals öffentlich sagen.

Nationalelf: Auf der Haddsch: Mesut Özil kürzlich in Mekka. Das Bild verbreitete er selbst in den Sozialen Medien.

Auf der Haddsch: Mesut Özil kürzlich in Mekka. Das Bild verbreitete er selbst in den Sozialen Medien.

(Foto: Twitter)

Was er öffentlich sagt, klingt so: "Wir sind hier bei der Nationalmannschaft, da muss sich jeder Einzelne einordnen."

Özil ist der, der halt auch dabei war bei der WM: So kam das rüber nach der WM, und Özil hat sich nicht beschwert. Er weiß ja: Alles, was er gesagt hätte, hätte gegen ihn verwendet werden können. Man kennt ja die beliebten Assoziationsketten in der Fankurve: Spielmacher, launische Diva, schnell eingeschnappt. Dabei ist Özil ja gerade nicht eingeschnappt gewesen, sehr seriös hat er jene Aufgabe erledigt, die ihm Joachim Löw in Brasilien zugeteilt hatte. Özil, der für seine Zehnerposition sehr zärtliche Gefühle entwickeln kann, hat eine Art Linksaußen spielen müssen, weil Löw die Zehnerposition für die Dauer der WM gestrichen hatte. Ein klarer Fall von nicht artgerechter Haltung, den der Naturschutzbund offenbar übersehen hat.

Vielleicht hat Mesut Özil die Männerliga in England gebraucht

"Jeder weiß, dass ich auf der Zehn mein Potenzial am besten ausschöpfen und dem Team am meisten helfen kann", sagt Özil heute, "aber wir sind Weltmeister geworden, deshalb war alles richtig so."

Zwar ist gerade Marco Reus' Platz links vorne frei geworden, aber diesmal wird Löw sich kaum den Luxus erlauben, seinen Spielmacher artfremd zu halten. Löw ist Özil-Fan, wäre er ein Follower, würde er den "Gefällt-mir"-Button drücken, und natürlich hat der Bundestrainer auch genau registriert, dass sein Gefühlsspieler beim Kicken jetzt auch immer häufiger seinen Körper dabei hat. "Ich habe lernen müssen, dass man in England noch mehr auf sich aufpassen muss als in anderen Ländern", sagt Özil, "die Liga ist wahnsinnig intensiv, du spielst ohne Winterpause durch, das unterschätzt man am Anfang."

Vielleicht hat Özil diese Männerliga gebraucht, um sein Spiel erwachsen werden zu lassen. Er hat sich sehr erschrocken, als ihm im Herbst 2014 eines seiner Außenbänder riss und ihn ein Vierteljahr aus dem Betrieb nahm. Verletzt waren bis dahin immer nur die anderen gewesen, Verletzungen waren was fürs Fußvolk, Özil hatte sie nie nötig gehabt; er hatte den Ball immer schon abgespielt, bevor sich ein Zweikämpfer an ihn herantrauen konnte. "Aber die Dauerbelastung des englischen Fußballs hat mir zugesetzt, und als Erstes hat eben das Knie reagiert", sagt Özil, "deshalb hab' ich meine Ernährung und mein Training umgestellt." Er wiegt jetzt 72 Kilo statt 74, ein kleiner Schritt für die Waage, aber ein großer für Özil. Er sagt, er komme sich jetzt viel leichter und spritziger vor.

Özil braucht die Bilder aus England, die beweisen, dass es sich bei ihm um einen Fußballer aus Fleisch und Blut handelt. Er hat angeblich 30 Millionen Follower auf den unterschiedlichen Kanälen, er postet Bilder, die ihn vor der Kaaba in Mekka und solche, die ihn im Urlaub zeigen, und er weiß, dass er auf einem schmalen Grat Fußball spielt. Wie Mario Götze spielt er immer auch gegen das Vorurteil an, er sei eine virtuelle Erfindung oder ein Hashtag-Fußballer, und so kommt es, dass die Leute eine gelungene Özil-EM als jenen überfälligen Durchbruch bezeichnen würden, den er in Wahrheit schon bei der WM 2010 geschafft hat.

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