Nationalelf:Ein Hühnerhaufen macht Karriere

Beim 2:1-Sieg in Tschechien zeigen die deutschen Fußballer, dass sie mittlerweile auch große Gegner beherrschen können.

Ludger Schulze

Der Untergang der Titanic dauerte immerhin knapp drei Stunden, der deutsche Fußball benötigte dazu nur die halbe Zeit. Die 90-Minuten-Katastrophe ereignete sich in Florenz, dem, wie die SZ damals schrieb, "Schauplatz einer historischen Niederlage mit tiefgreifenden Implikationen".

Podolski, Ballack, Lahm und Kuranyi

Keine Spur von Hühnerhaufen: Sogar Kevin Kuranyi trifft.

(Foto: Foto: ddp)

Noch mehr? Gut: Dieses unglückselige 1:4 gegen Italien, verschuldet von "Narren und Repräsentanten eines Fußball-Entwicklungslandes" (SZ), legte die Zukunft der Nationalmannschaft für alle Zeiten in Schutt und Asche. "Lächerliche Deutsche", schloss das Blatt Tuttosport die Debatte, "zu schlecht, um wahr zu sein".

Tja nun, das ist jetzt knapp 13 Monate her, und - ehrlich gesagt - strahlt die verlorene Zukunft des deutschen Fußballs heller denn je. Der 2:1-Sieg vom Samstagabend in Prag gegen die Auswahl Tschechiens, eines der imposantesten Teams Europas im aktuellen Jahrzehnt, wäre im übertragenen Sinne wie das vollständige, unversehrte Wiederauftauchen der Titanic, eröffnete aber jedenfalls eine Diskussion, ob es jemals eine bessere Nationalmannschaft im DFB-Dress gegeben habe.

Zur Klärung diesbezüglicher Fragen hält sich diese Mannschaft glücklicherweise eigens einen Historiker in ihren Reihen, Prof. Dr. hist. Christoph Metzelder von der Borussia-Universität in Dortmund. In seinem Kurzvortrag nach der Partie im Slavia-Stadion kam er zu dem Ergebnis: nein. "Ich glaube", sprach der nebenberufliche Abwehrspieler, "dass noch nie eine deutsche Mannschaft so organisiert und modern gespielt hat."

Platz unter den Denkmälern

Eine derartige Feststellung könnte leicht zu einem weiteren Historikerstreit führen, aber die Mitglieder der Breslau-Elf (1937, 8:0 gegen Dänemark) um Fritz Szepan oder so gut wie alle 54er-Weltmeister um Fritz Walter können sich nur noch im Grabe herumdrehen.

Franz Beckenbauer und Günter Netzer hingegen, die Dirigenten der Europameister von 1972, dürften mit Recht Einspruch erheben, am Ende aber mit Metzelder zu einem Kompromiss kommen: dass die heutige Elf auf dem besten Weg ist, sich tatsächlich einen Platz unter den Denkmälern der DFB-Geschichte zu verschaffen.

Kühler betrachtet führen Löws Leute die EM-Qualifikationsgruppe D nach dem 2:1-Triumph durch zwei Kopfballtreffer von Kevin Kuranyi beim schärfsten Rivalen nun lediglich souverän an und sollten, falls sie nicht ein kollektiver Meniskusriss ereilt, die Teilnahme am Turnier in Österreich und der Schweiz bereits sicher haben.

Der Auswärtssieg auf dem Prager Letna-Hügel ist laut Teammanager Oliver Bierhoff der nächste Schritt einer Entwicklung, die mit einem weiteren EM-Titel oder zumindest mit der Überwindung eines sieben Jahre andauernden Traumas enden sollte; damals gelang mit dem 1:0 in England das letzte ungeteilte Erfolgserlebnis gegen einen der so genannten Großen wie Brasilien, Argentinien oder Italien. Mit den Florentiner Havaristen vom März '06 haben die Prager Helden nichts mehr gemein, wenn man davon absieht, dass neun von ihnen schon damals aktiv waren.

Magisches Dreieck

Das seinerzeitig offenkundige Mittelfeldloch, das die gesamte Defensive zu einem "Hühnerhaufen" (Torsten Frings) machte, ist inzwischen luft- und wasserdicht abgeschlossen, das Umschalten von Defensive auf Attacke und umgekehrt funktioniert so rasch wie wohl bei wenigen Mannschaften.

Die zentrale Abwehr mit Metzelder und Per Mertesacker, staunte selbst Trainer Löw, ließ Tschechiens Angreifer Milan Baros und Jan Koller "wie eine Mauer" abprallen. Eine blendende Leistung der Innenverteidiger, auch weil sie dank ihrer technischen Fähigkeiten, ihres Stellungsspiels ohne Fouls auskamen und deshalb gefahrbringende Standardsituationen weitgehend vermieden.

Gemeinsam mit Frings zogen sie ein magisches Dreieck auf, das Unterstützung im vorbildlich kapitänhaft auftretenden Michael Ballack fand. So wurde im Kräfteverbund der gefürchtete Hüne Koller aus dem Spiel genommen, der mit zunehmender Dauer verzweifelter wurde und sich gleich mehrere Fouls leistete.

"Eigentlich", erklärte sein früherer Dortmunder Teamkollege und heutiger Gegenspieler Metzelder, "ist er lammfromm. Da muss schon viel passieren, dass er so einen Ausraster hat."

Viel passiert ist jedenfalls bei den Deutschen, und beim Aufspüren dieses Trends stößt man unweigerlich auf den neuen Cheftrainer. Löw hat damals auf einen dringenden Appell von Ballack hin die Renovierung der gesamten Defensivstruktur vorgenommen, ohne der Elf ihre Offensiv-Qualitäten zu rauben.

Handschrift erkennbar

"Wir haben seitdem (seit Florenz, Anm. d.Red.) an der Taktik gearbeitet, jeder weiß jetzt, was er zu tun hat", sagte Frings. "Löw hat schon zu Klinsmanns Zeiten großen Einfluss gehabt und uns den Feinschliff gegeben. Das setzt er jetzt als Cheftrainer fort", fügte Ballack hinzu.

Und der bekannt kritische ARD-Experte Netzer konnte "eine Handschrift erkennen, das ist das größte Kompliment, das man einem Trainer machen kann".

Auch der gegnerische Trainer Karel Brückner fiel in den allgemeinen Chor ein und erkannte ohne Neid an, dass seine Männer "an die Wand gespielt" worden waren.

Den Beifall nimmt Joachim Löw gelassen entgegen, er ist sich seiner Leistung durchaus bewusst. Löw hat seine Elf gegen die Tschechen an die Grenze seiner eigenen Vision geführt, aber: "Den perfekten Fußball gibt es nicht. Man kann nur versuchen, möglichst nahe heranzukommen, um dieses Niveau dann zu halten."

Hilfreich dabei wäre eine bessere Chancenverwertung, denn mit einem etwas konzentrierterem Abschluss, etwa bei Megamöglichkeiten von Schweinsteiger oder Schneider, hätten sich die Tschechen diesmal ähnliches anhören müssen wie die Deutschen vor Jahresfrist in der Toskana.

Die aber freuen sich an ihrer eigenen Wiederauferstehung und blicken der näheren Zukunft mit runderneuertem Selbstbewusstsein entgegen. "Vielleicht", sagt Michael Ballack mit Blick auf die EM, "kann man da mal ins Turnier gehen und sagen, die Deutschen sind Mitfavorit." So wird es sich kaum vermeiden lassen.

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