Nadine Angerer:Die öffentliche Torfrau

Auf dem Fußballplatz steht sie schon lange, doch im Rampenlicht erst seit dem WM-Erfolg in China. Wie die deutsche Nationaltorhüterin Nadine Angerer plötzlich berühmt wurde.

Kathrin Steinbichler

"Manchmal erschrecke ich noch richtig", sagt Nadine Angerer - und lacht. Denn normalerweise ist sie ja nicht schreckhaft, im Gegenteil. Aber es ist für sie eben ungewohnt, dass nun zum Beispiel beim Einparken wildfremde Menschen in ihrem Rückspiegel auftauchen und winken. "Manche wollen einfach nur Hallo sagen, andere wollen mich in die Parklücke lotsen." Früher hatte da keiner geholfen, früher war sie oft lange und unbeachtet durch die Straßen am Prenzlauer Berg gefahren, um einen Parkplatz zu finden. Früher war sie zum Bäcker, zum Gemüsemann oder in ein Café gegangen, und niemand hatte sie sonderlich beachtet. Doch das ist vorbei, seitdem Nadine Angerer Weltmeisterin ist, seitdem sie in diesem Spätsommer als Torhüterin mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft der Frauen in China ohne Gegentor das Turnier gewann. Und nicht nur in Berlin wird sie nun gekannt und erkannt.

Ihr Mobiltelefon klingelt alle paar Minuten, dann stellt sie es aus. Noch immer melden sich täglich Fernseh- und Radiosender, Zeitungen und Sponsorenvertreter. Es gab mal einen Moment, in dem sie überlegt hat, sich eine neue Telefonnummer zu besorgen, um wieder mehr Ruhe zu haben. Sie hat die alte Nummer behalten. Nun will sie sich dem Rummel nicht nur stellen, sondern sie hat ihn angenommen, weil er zur ganzen Entwicklung gehört, die ihr Sport jetzt nimmt. "Es ist ja auch schön, wenn man die Möglichkeit bekommt, auf den Frauenfußball aufmerksam zu machen", sagt sie. "Das ist eine unheimliche Chance, die wir gerade haben, und ich würde mich auch nicht gut fühlen, wenn ich mich da entziehe."

Es wäre wohl auch nicht leicht gewesen, sich zu entziehen. Schließlich hatte der DFB-Präsident Theo Zwanziger schon direkt nach dem Endspiel zu den Journalisten gesagt: "Auf Nadine wird eine Menge zukommen, sie ist eines der Gesichter, die nun den Frauenfußball im Hinblick auf die WM 2011 vertreten müssen." Als sie dieses Zitat im Hotel erzählt bekam, wurde sie rot und lächelte unsicher.

"Keine fliegt schöner"

Plötzlich also stand sie im Rampenlicht, plötzlich ging alles ganz schnell. Neun lange Jahre war sie in der Nationalmannschaft nur die Nummer zwei im Tor gewesen. Dann schaffte sie erst den Sprung in die Stammelf - und hielt über 540 Minuten in sechs WM-Spielen alles, was auf ihr Tor kam, selbst einen Elfmeter im Finale. Niemand zuvor hat das geschafft, es ist ein historischer Rekord. "Das ist eine Leistung, die wahrscheinlich einmalig bleiben wird. Das kann man sich zwar vornehmen, aber es dann auch zu schaffen, ist fast unmöglich", meinte Nationaltorhüter Jens Lehmann in der FAZ. "Wir hatten eine Super-Abwehr", sagt Angerer, "ohne die wäre ich gar nichts."

Im Alltag aber stand sie nach der Rückkehr erst einmal ohne die Abwehr da und musste allein versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Am Freitag nach dem Endspiel etwa war sie mittags vom Fahrdienst des NDR abgeholt und zu einer Talkrunde nach Hamburg gefahren worden. Am Morgen danach flog sie das ZDF in die Schweiz, wo sie mit Nationalmannschaftskollegin Birgit Prinz von Thomas Gottschalk zu "Wetten, dass..?" geladen war. Am selben Abend ging es per Flugzeug nach Essen, wo ihr Verein Turbine Potsdam einen Tag später vor mehr als 3000 Zuschauern zum ersten Bundesligaspiel nach der WM antrat. Kreuz und quer ist sie durchs Land gehetzt, nur Johannes B. Kerner hat sie in dieser Woche abgesagt, trotz einer schönen Antrittsgage, die ihr versprochen worden war für einen Auftritt am ersten Tag nach der WM-Rückkehr. "In Potsdam hatten sie einen Empfang organisiert mit all den Leuten vom Verein und den Sponsoren", sagt Nadine Angerer. "Die haben mich all die Jahre unterstützt, da wollte ich unbedingt hin. Man darf nicht vergessen, wo man herkommt."

Es ist diese Mischung aus Professionalität und Loyalität, die sie immer schon ausgezeichnet hat. Und heute bekommt sie dafür auch Auszeichnungen: Hans-Dietrich Genscher hat ihr in Berlin als Vertreterin der Frauenfußball-Nationamannschaft eine Skulptur überreicht, die "Liberta". Es ist ein Preis, der von der FDP für eine "Leistung mit Vorbildcharakter für die Gesellschaft" vergeben wird. Neben den Fußballerinnen bekam ihn noch die Verfassungsrichterin Gisela Wild. Der gesellschaftliche Anspruch, den Angerer und die Fußballerinnen inzwischen zu erfüllen haben, ist über den Sport hinausgewachsen.

Die öffentliche Torfrau

Nun steht am Sonntag das erste Länderspiel an nach der WM, in Lübeck geht es gegen Belgien. Die 28-Jährige will sich gewohnt konzentriert vorbereiten, sie ist froh um jede Minute der Ruhe, froh um Plätze wie dieses kleine russische Teehaus am Prenzlauer Berg. Draußen bläst der erste kühle Wind des Herbstes durch die Straßen, drinnen sitzt Nadine Angerer bei grünem Tee und sagt: "Es ist schön hier, oder? So ruhig und gemütlich, ich bin erst vor ein paar Tagen hier zufällig vorbei gekommen." Sie streift sich ihre Turnschuhe ab, um es bequem zu haben auf der Tatamimatte. Diese schwarzen Stoffschuhe mit den beigen Totenköpfen hat sie auch getragen, als sie im Bayerischen Fernsehen bei "Blickpunkt Sport" neben Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld saß. Dort ein dunkler Anzug und Lederschuhe, da eine moderne Klubjacke, Jeans und Totenkopfschuhe. Dort ein Vertreter des etablierten Männerfußballs, da ein Gesicht des noch einmal neu entdeckten Frauenfußballs. Angerer wirkt unkompliziert und offen, zugleich konzentriert und auf die Worte bedacht. Sie ist dabei zu lernen, wie sie mit der neuen, der ungewohnten Aufmerksamkeit umgehen kann. Wie sie sie selbst bleiben und doch eine öffentliche Person sein kann. "Ich kann jetzt ein bisschen nachfühlen, wie es wohl für Birgit immer so war", sagt sie.

Bisher war es Birgit Prinz, die dreimalige Weltfußballerin und Mannschaftskapitänin der deutschen Elf aus Frankfurt, die durch ihre Erfolge für den Frauenfußball stand. Nach dem ersten WM-Titel 2003 in den USA war die Stürmerin aus der Euphorie in ein monatelanges emotionales Tief gefallen, als Medien und Öffentlichkeit auf sie einstürmten. Auch Nadine Angerer muss seit der WM ihre Woche fast minutiös planen. Sie ist nicht länger nur eine junge Frau, die in der privilegierten Lage ist, als Nationalspielerin vom Fußball zu leben. Sie ist jetzt eine Profisportlerin, die außerhalb der Kreidelinien auf dem Rasen nicht mehr in die Anonymität verschwinden kann.

Als sie am Abend nach der Rückkehr vom Empfang am Frankfurter Römer mit Freunden zum Feiern in eine Kreuzberger Kneipe ging, brach das alles erstmals über sie herein. Fremde Menschen umarmten sie, beglückwünschten sie, wollten sie sprechen. Auf den Theken und in den Zeitungsläden Berlins lag sie diesen Monat über mit einem ganzseitigen Foto im Stadtmagazin Zitty aus. "Die Titanin" stand darüber, und darunter: "Keine fliegt schöner." Damals in Schanghai wusste Nadine Angerer nicht, das sich ihr Leben mit diesen 90 Minuten verändern würde. "Es ist nicht besser oder schlechter", sagt sie, "aber definitiv anders."

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