Nadine Angerer bei der WM:Die Angstmacherin

Germany v France: Quarter Final - FIFA Women's World Cup 2015

Den Fünften hält sie: Nadine Angerer.

(Foto: Minas Panagiotakis/AFP)
  • 2007 gewann DFB-Torhüterin Nadine Angerer die Fußball-WM, 2013 die EM. Nun will sie in Kanada erneut ins Finale.
  • Im Viertelfinale gegen Frankreich hielt sie mal wieder einen entscheidenden Elfmeter: "Ich hatte das Gefühl, dass sie Angst hat", sagte Angerer über die Schützin.
  • Gegen die USA geht es nun um die Frage: Endspiel oder Spiel um Platz drei? Danach ist für die 36-Jährige Schluss.

Von Frank Hellmann, Montréal

Vielleicht gibt es gar keinen besseren Zeitzeugen als Michael Fuchs, der erklären kann, wie Nadine Angerer mitunter tickt. "Wenn sie ein Frühstücksei kocht, dann in einem Riesentopf mit fünf Liter Wasser drin. Wenn ich dann sage, 'Natze', das ist ja Wahnsinn, nimm doch einen kleineren mit 200 Milliliter, dann entgegnet sie, ich solle sie nicht stören. Ich habe gelernt, sie dann machen zu lassen."

Diese Episode von einem früheren Besuch in Schweden, wo der Freigeist unter der Latte ja auch mal Station machte, verriet der Torwarttrainer der deutschen Frauen-Nationalmannschaft mal in der Vorbereitung auf diese WM.

Und irgendwie ahnte Fuchs vielleicht, dass die Begebenheit eine passende Beschreibung für die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen beiden sein könne. "Es ist bei uns schon mehr als eine Zweckbeziehung", sagt der 44-Jährige, der im Hauptberuf an der Berthold-Brecht-Schule in Nürnberg Sport und Englisch unterrichtet, sich aber noch einmal hat freistellen lassen, um Angerers letztes Turnier mit Rat und Tat zu begleiten.

Dass die 36-Jährige beim Viertelfinal-Drama gegen Frankreich (5:4 nach Elfmeterschießen, 1:1 nach Verlängerung) den fünften Versuch von Claire Lavogez abwehrte und damit den deutschen Frauen den Halbfinal-Einzug bei dieser Weltmeisterschaft sicherte, war jener Mischung aus rationalen und emotionalen Erwägungen zu verdanken, die ihr ganzes Leben prägte. "Ich habe gar keine Taktik, ich versuche lange stehen zu bleiben." Natürlich gebe ihr der Vertrauensmann allerlei Tipps ("Er heißt nicht nur so, er ist ein Torwarttrainer-Fuchs!"), aber letztlich sage er nur: "'Natze', verlass' Dich auf Deine Intuition. Ob ich einen halte, ist dann immer die Sache."

Auftrag mal wieder erfüllt, lautete schlussendlich das Fazit aus dem Olympiastadion von Montréal, nachdem die Bundestrainerin allergrößtes Vertrauen in die Kapitänin gesetzt hatte. "Du musst zwei Elfmeter halten", verriet Silvia Neid ihre Vorgabe vor der Nervenschlacht. Sie sagte: 'Zwei gleich? Okay!'" Und Torjägerin Celia Sasic, die in der regulären Spielzeit zum 1:1 und beim 5:4 vom Punkt vollstreckte, erzählte freimütig von der Unterredung, "Natze hat vor dem Spiel gesagt, dass wir auf keinen Fall nach Hause fahren dürfen, weil ihr Shampoo noch nicht leer ist."

Mit dem Ruhm umzugehen, das musste sie lernen

Dafür aber der Kopf. "Eigentlich bin ich zu alt für sowas. Ich brauche jetzt erst einmal einen Tag, das alles zu verarbeiten", gestand die 36-Jährige, die mit dem linken Knie den Strafstoß abwehrte und noch im Liegen auf dem Kunstrasen erfreut die Faust ballte. Recht rasch aber muss der Schalter umgelegt werden: Schon in der Nacht zu Mittwoch (1 Uhr MESZ) wartet das Halbfinale gegen USA, das wieder im baufälligen Betonmonstrum des Parc Olympique ausgetragen wird.

"Das wird auch nicht leichter", ahnt Angerer. "Es ist schon komisch. Ich habe mit einigen US-Nationalspielerinnen bereits zusammengespielt. Sie kennen mich, aber ich kenne sie auch. Es wird auf jeden Fall wieder ein sehr, sehr schweres Spiel."

Niemand sehnt das krönende Ende der Mission "Titeltraum" vielleicht mehr herbei als diese ebenso charismatische wie ehrgeizige Sportlerin, die in einer Großfamilie in Gössenheim nahe Gemünden zwischen Aschaffenburg und Schweinfurt aufwuchs. Den Ehrgeiz bekam sie von Mutter Petra vererbt, die sie bei allen Turnieren seit 1999 begleitet. Aber erst nach einer endlosen Phase des Wartens trat sie erst 2007 aus dem Schatten der dominanten Silke Rottenberg, als Angerer als unüberwindbare Heldin von der WM in China zurückkehrte. Ihr Elfmeter-Coup gegen die Weltfußballerin Marta im Finale (2:0 gegen Brasilien) sollte ihr viel Ruhm einbringen, mit dem sie erst lernen musste umzugehen, wie sie in ihrer Autobiografie "Im richtigen Moment - meine Story" anschaulich beschrieb.

Als sie dann vor zwei Jahren im EM-Endspiel (1:0 gegen Norwegen) gegen Trine Rønning und Solveig Gulbransen parierte, gelang das anschließend viel besser. Was sich damals in der Arena von Solna abspielte, wiederholte sich. "Ruhig bleiben, Natze, sagte ich zu mir ...Der Ball darf nichts ins Tor, auf gar keinen Fall. Ich blendete aus, dass das vollbesetzte Stadion brodelte wie ein blubbernder Brei, ich sah nichts mehr außer den Ball." So erklärte Angerer in ihrem Buch die entscheidenden Szenen von 2013. Nun erläuterte sie auf der Pressekonferenz in einem mit schwarzen Vorhängen abgedunkelten Saal, was sie beim Anlauf der jüngsten Französin dachte: "Ich hatte das Gefühl, dass sie Angst hat." Angst vor Angerer.

Dass sie die bisweilen arg aufgesetzt wirkenden Fifa-Konventionen fürs Prozedere um die Ehrung zur "Spielerin des Spiels" zuvor mit Grimassen konterkarierte, passte zu ihr. Weshalb sich Fuchs gar nicht richtig vorstellen kann, dass die Ära dieser unangepassten Meinungsmacherin des Frauenfußballs schon bald Geschichte sein soll. Entweder nach dem Spiel um Platz drei in Edmonton oder dem Finale in Vancouver ist Schluss; das Karriereende ist ja bereits verkündet worden. Wie immer selbstbestimmt. Aber eines weiß der gute Geist aus dem Trainerstab schon: "Der private Kontakt wird bleiben." Und die Unterschiede beim Zubereiten des Frühstückseis wohl auch.

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