Nach 1:1 gegen Island:Storck befeuert Ungarns Traumfabrik

Euro 2016 Group F Iceland - Hungary

Coach Bernd Storck (re.) und sein Assistent Andreas Möller stehen mit Ungarn kurz vorm EM-Achtelfinale.

(Foto: dpa)
  • Ungarn? War das nicht einer der krassesten Außenseiter dieser EM?
  • Ein Deutscher macht beim einstigen Fußballriesen lange gerade vieles richtig.

Von Ulrich Hartmann, Marseille

Am Sonntag war Familientag im Quartier der ungarischen Mannschaft. Frauen und Kinder brachten Leben ins spröde Männerlager im Örtchen Tourrettes, ein Stückchen nordwestlich von Cannes. Dass sie ihre Fußballmänner als Tabellenführer der EM-Gruppe F besuchen dürfen, wäre den Gattinnen vermutlich nie eingefallen. Dadurch war die Stimmung besonders ausgelassen.

Am Mittwoch bekommen es die Ungarn in Lyon mit Portugal zu tun. Ein Unentschieden würde ihnen bereits genügen, um das Achtelfinale als Erster oder Zweiter zu erreichen. Aber selbst im Falle einer Niederlage gegen die bislang zweimal sieglosen Portugiesen um Cristiano Ronaldo besäße Ungarn angesichts seiner bereits vier Punkte Chancen auf das Achtelfinale.

Ihr deutscher Trainer Bernd Storck, einst Assistent von Jürgen Röber bei Hertha BSC Berlin und seit einem Jahr Ungarns Nationaltrainer auf Empfehlung seines Vorgängers Pal Dardai, wurde nach dem 1:1 gegen Island am Samstag in Marseille beinahe wehmütig und lobte die Moral seiner Spieler ebenso wie die Leidenschaft der ungarischen Fans. Sie hatten die etwa 1200 Kilometer aus der Heimat derart zahlreich auf sich genommen, dass im 'Stade Vélodrome' am Mittelmeer mit geschätzten 20.000 rotgekleideten Fans Heimspiel-Atmosphäre herrschte.

Ungarn ist nach nur zwei Spielen auf dem Weg zu einem Fußballmärchen. 44 Jahre Jahre nach der bislang letzten EM-Teilnahme 1972 in Belgien (damals spielten nur vier Mannschaften den Titel aus, und Ungarn wurde Vierter) kehren die Magyaren in Frankreich zurück auf die europäische Bühne und schaffen vermutlich den Einzug unter die besten 16 Mannschaften des Kontinents. "Die Schatten der Vergangenheit sind sehr groß in Ungarn", sagt Storck über die ungarische Mannschaft der 50er und 60er. Zusammen mit seinen deutschen Assistenztrainern Andreas Möller und Holger Gehrke leuchtet er die Gegenwart des ungarischen Fußballs aber momentan so umfassend aus, dass kaum mehr Schatten sichtbar sind.

"Die Mannschaft hat sich unglaublich weiterentwickelt", lobt Storck die Spieler - und damit auch sich und seine Arbeit. Gegen Island spielte Ungarn mit 70 Prozent Ballbesitz äußerst dominant, hatte am Ende mit einem späten Ausgleichs- durch ein isländisches Eigentor aber trotzdem gefühlt ein bisschen Glück. 49 Minuten lang lagen die Ungarn 0:1 hinten. Nach einem Foul von Tamas Kadar an Aron Gunnarsson hatte der frühere Hoffenheimer Gylfi Sigurdsson zunächst einen Elfmeter in der 39. Minute zur 1:0-Pausenführung für die Isländer verwandelt. In der 88. Minute erzwangen die Ungarn durch ein Eigentor des Isländers Birkir Saevarsson nach einer Hereingabe von Nemanja Nikolic das 1:1.

Selbst Bankspieler hauen sich rein

"An dieser isländischen Abwehr hat sich schon Portugal die Zähne ausgebissen", sagte Storck verständnisvoll. Für nur glücklich hält er den Ausgleich aber nicht. "Wir haben ihn erzwungen." Dabei hat Storck da wirklich ein Sammelsurium von Spielern aus unterschiedlichsten Ligen beisammen. Die Startelf vom Samstag bestand aus fünf Spielern ungarischer Klubs, zwei aus Polen, mit Laszlo Kleinheisler von Werder Bremen und Zoltan Stieber vom 1. FC Nürnberg zwei aus der Bundesliga sowie je ein Spieler aus der türkischen und der slowakischen Liga.

Hannovers Adam Szalai, der beim 2:0 gegen Österreich zum Auftakt Startspieler und Torschütze gewesen war, saß diesmal auf der Bank und wurde trotz des langandauernden Rückstands erst in der 84. Minute eingewechselt. "Er hat im ersten Spiel viel gearbeitet, und ich wollte im zweiten frische Leute haben", sagte Storck. "Wir haben 23 gleichwertige Fußballer - und alle haben es verdient zu spielen."

Szalai schien ob seine Reservistenrolle nicht mal enttäuscht. Die knapp zehn Minuten, die er schließlich spielen durfte, hängte er sich mächtig rein, und als ein finaler Freistoß der Isländer hauchdünn am ungarischen Tor vorbeigestrichen war, rannte er mit geballten Fäusten an ausgestreckten Armen über den ganzen Platz und verschwand am ungarischen Fanblock in einer Masse aus rotgekleideten Fans, die sich über die Brüstung beugten und Szalai zu verschlingen schienen. Nach dem 1:1-Ausgleich hatten ungarische Ultras Leuchtfeuer angezündet und auf den Rasen geworfen, doch schlimmere Szene blieben aus. "Die Euphorie der Fans in Ungarn und hier ist unglaublich groß", hat Storck beobachtet, "sie genießen diese Erfolge nach all den Jahren der Abstinenz."

Diese Euphorie ist auch im Quartier in Tourrettes allgegenwärtig. "Mit jedem gewonnenen Punkt geht hier ein kleiner Traum in Erfüllung", sagt Storck. "Und jetzt sind es schon vier." Zum Abschluss der Vorrunde sollen nun auch Ronaldo und seine Portugiesen das neue Ungarn erleben. Storcks Helden sind bereit für die Erfüllung weiterer Träume.

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