Nach dem Tod von Robert Enke:Leben ohne Fluchttüren

Die Deutschen sind ein Volk von Spezialisten, die unter einem enormen Erfolgsdruck stehen. Robert Enkes Angst, aus dem System zu fallen, droht tief in die Gesellschaft einzudringen.

Ralf Wiegand

So viele Fassaden stürzen ein in diesen Tagen, so viele Vorhänge fallen. Zum Vorschein bringt der Tod von Robert Enke das Menschliche am Übermenschlichen, die Tränen der harten Jungs, die Sprachlosigkeit einer plappernden Branche, und eine Ehrlichkeit, die der Spitzensport so nicht kannte. Doch dieser öffentliche Todesfall weist weit über den Sport hinaus, in alle Lebensbereiche, in denen Ansprüche erfüllt werden müssen und wo sich Leistung zu lohnen hat.

Nach dem Tod von Robert Enke: Robert Enkes Angst, aus dem System zu fallen, droht tiefer in die Gesellschaft einzudringen.

Robert Enkes Angst, aus dem System zu fallen, droht tiefer in die Gesellschaft einzudringen.

(Foto: Foto: ddp)

Denn der Fußball auf seinem höchsten Niveau mag unehrlich sein, aber nicht unehrlicher als alle Eliten, alle Leistungsspitzen. Sie berücksichtigen nie den ganzen Menschen, sondern nur einen Teil von ihm. Das Nützliche.

Der Reflex, den Selbstmord eines verzweifelten, unter Versagensangst leidenden Leistungssportlers den Ritualen einer archaischen Männergesellschaft anzukreiden, ist kaum zu unterdrücken. Der Spitzensport ist durchorganisiert mit dem Ziel größtmöglicher Funktionalität. Emotionen kommen zwar vor, sind aber nur Teil der Show. Im Fußball etwa heizen einstudierte Jubel-Choreographien von Torschützen die Stimmung an und lösen Gefühle im Publikum aus. Ihretwegen kommen die Zuschauer ja her.

Doch die Leistungselite unten im Stadion, auf dem Rasen oder der Laufbahn, hat höchstens kontrolliert emotional zu sein. Gefühlsausbrüche im Wettkampf unterbindet der Schiedsrichter notwendigerweise für einen geregelten Ablauf. Aber unterbunden werden auch die großen Gefühle, die existentiellen. Im Fußball gibt es aktuelle Beispiele dafür.

Der Schalker Stürmer Kevin Kurányi, der aus Frust darüber, nicht nominiert worden zu sein, in einer Halbzeitpause das Stadion und die Mannschaft verließ, ist seither geächtet. Bestraft wurde er für Hochverrat mit lebenslanger Nichtbeachtung durch den Bundestrainer. Er wird womöglich nie wieder für Deutschland spielen dürfen, wegen eines unkontrollierten Gefühlsausbruchs.

Gegen freie Meinungsäußerung hat der Sport die Geldstrafe erfunden; Vereine zwingen Spieler, ihre Angestellten, per Arbeitsvertrag, ihre Meinung nur ihren Vorgesetzten gegenüber zu äußern oder sie wenigstens absegnen zu lassen. Wer sich in seinem Verein unter Druck gesetzt fühlt, vielleicht überfordert ist, dürfte das der Öffentlichkeit nur mitteilen, wenn er die Regeln bricht.

Und es geht weiter: Was in einer Umkleidekabine gesprochen wird, gilt für die Außenwelt als nicht gesagt. Mannschaften decken unter Hinweis auf ihren Bund alkoholkranke Mitspieler, Ehebrecher, spielsüchtige Kollegen. Und wohl auch die Schwermütigen. Wenn sie nur gute Spieler sind.

Wie viel Versagen lässt die Gesellschaft zu?

Das Verführerische an Sport, an Kultur, sogar an der Politik, ist, dass oft ein einziges Talent ausreicht, um ganz an die Spitze zu kommen. Der goldene linke Fuß, das absolute Gehör, das diplomatische Geschick. Doch dieses Talent auszubeuten, birgt die Gefahr, dass der Rest des Menschen dahinter verschwindet, umso gründlicher, je höher er auf der Leistungspyramide steigt. Die Auslese auf dem Weg nach oben ist natürlicherweise mit Härte verbunden, die gut bezahlt wird, das ja. Der Stress gehört sozusagen zum Berufsrisiko. Was aber, wenn Umkehr notwendig wäre, der eingeschlagene Weg jedoch eine Einbahnstraße ist?

Die Frage ist, wie viele Fluchttüren die moderne Leistungsgesellschaft im Karriere-Tunnel eingebaut hat oder vielleicht, in diesen Tagen der von Robert Enkes Tod geprägten erleuchtungsartigen Erkenntnis, bereit ist, nachträglich einzubauen. Wie viel Versagen sie zulässt. Wie viele Pausen sie gestattet. Wie viel Freiheit sie den Gedanken einräumt, auch den düsteren. Denn das, was den Torwart trieb, der Angst hatte, aus dem System zu fallen, wenn er versagte und der deshalb nur überleben konnte, solange er funktionierte, droht tiefer in die sich verändernde Gesellschaft einzudringen.

Wir werden, wir sind schon ein Volk von Spezialisten. Akademiker müssen in ihrem Fach die Besten sein, um in die Berufswelt eintreten zu dürfen. Börsenmakler und Finanzmanager stehen unter enormem Erfolgsdruck, weil hinter jedem von ihnen zwei jüngere auf die Chance zum Einstieg warten. Jahrzehntelange Erfahrung kann von einem Tag zum anderen wertlos sein, wenn ein auf Effizienz gedrillter Youngster die gleiche Tätigkeit doppelt so schnell ausführen kann.

Umschulungen, früher ein probates Mittel, um dem Leben eine neue Richtung zu geben, sind längst eine belächelte Maßnahme für die aussichtslosen Kandidaten. Die Leistungsgesellschaft reizt ihre Talente aus. Sie nimmt sich nur das Nützliche. Richtungswechsel, Umstiege, in der Mitte des Lebens nochmal was ganz anderes machen - wem das gelingt, ist ein wahres Glückskind.

Für Robert Enke hat es keine Fluchttüren gegeben. Er hat sich keine Pause gestatten dürfen, er hat die Chance zur Umkehr, zum Um- oder Ausstieg nicht gesehen. Er musste erst nach innen fliehen, in die Depression, und dann aus dem Leben. Der Sport muss jetzt damit umgehen, dass das Märchen aufgeflogen ist, wonach erfolgreiche Sportler automatisch glückliche, gesunde, starke Menschen sind. In manchen Zeitungen stand, und es klang überrascht, dass "gestandene Männer weinten". Der Vorhang ist gefallen, einen neuen braucht es nicht.

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