Möglicher Titel des FC Bayern:Meister inmitten der Winter-Depression

Der Bundesliga steht ein Rekord bevor: Der FC Bayern kann seine grandiose Saison bereits am 27. Spieltag mit der Meisterschaft krönen - noch nie holte ein Klub so überlegen die Schale. Doch an Feiern will niemand denken: Erstens liegt noch Schnee und zweitens interessiert eh nur noch Juve.

Von Jonas Beckenkamp

Anhänger des FC Bayern und Rechenfüchse aller Art dürfen sich an diesem Bundesliga-Wochenende über eine Fingerübung in Sachen Fußball-Arithmetik freuen. Der Tabellenstand lässt es zu, dass der Rekordmeister in überaus rekordiger Art den Titel gewinnen kann - dazu bedarf es nur zweier Zahlenspielereien. Sollte Borussia Dortmund am Samstag (15.30 Uhr) nicht den VfB Stuttgart besiegen und die Bayern ihr Abendduell gegen den HSV (18.30 h im Liveticker bei SZ.de) siegreich bestreiten, ginge die Schale definitiv an die Isar.

Im Fall einer Dortmunder Pleite im Ländle betrüge der Vorsprung der bayerischen Allesdominierer epische 23 Punkte - das könnten weder der BVB noch Leverkusen je aufholen. Es wäre eine nie dagewesene Bestmarke für einen deutschen Titelträger: Erstmals in der Historie würde die Entscheidung bereits am 27. Spieltag fallen, Raum für weitere Spitzenwerte bestünde mehr als genug.

22 Siege haben die Münchner derzeit auf dem Konto, der Rekord eines Meisters liegt bei 25 (Dortmund in der vergangenen Saison, Bayern 1972/73). Sollte die Elf von Trainer Jupp Heynckes den Rest dieser Spielzeit halbwegs ernst nehmen, könnte man diese Erfolgsquote pulverisieren. Die Bayern werden den Titel holen, daran zweifeln nichtmal mehr berufsmäßige Miesepeter - die Frage ist nur, wann?

Noch müssen für den FCB zwei Siege her, um aus eigener Kraft alles klar zu machen. Um sich selbst in aller Ausführlichkeit an solche Unwägbarkeiten zu erinnern, holten die Bayern im vergangenen Sommer Matthias Sammer als Sportvorstand. Der Münchner Chef-Mahner ist einer, der das Wort "Euphoriebremser" in seinem Jobprofil stehen hat, der Kampf gegen den Konjunktiv ist sein Charakteristikum.

"Wir haben seit vorigem Sommer gnadenlos daran gearbeitet, um dort zu sein, wo wir sind. Und dürfen jetzt bitte nicht anfangen, Denkfehler zu machen," gängelte Sammer in der Bild-Zeitung jegliche sich anbahnende Kleinstvorfreude auf ein wenig Remmidemmi am Samstag.

Seine Nachricht: Bloß nicht nachlassen, weiter seriös arbeiten und vor allem nicht vorzeitig ans Feiern denken! Er hätte "keinen Respekt" vor einem Spieler, der diese Ansage missachte, denn - richtig - da war ja noch was: Nur 72 Stunden nach der Partie gegen den HSV erwarten die Münchner mit Juventus Turin im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League einen ernsthaften Herausforderer.

Wegen dieser etwas größeren Aufgabe würde ihm seine erste Meisterschaft mit den Bayern "nicht so viel bedeuten", sagte Sammer: "Natürlich wäre es ein unglaublicher Moment, den wir uns allerdings nur sehr kurz gönnen dürfen. Es wäre ein schönes Gefühl, aber das darf nicht dazu führen, sentimental zu sein." Tränen, Jubel und Weißbierduschen sind Sammers Sache nicht.

"Je eher, desto besser"

Stattdessen sollen die Profis spüren: "Dieses innere Gefühl ist etwas für die Ewigkeit und die Geschichte. Eine Feier ist vergänglich und kann irgendwann folgen." In Sammers Weltanschauung sind knallende Korken so etwas wie eine lästige Pflichtaufgabe - ob ein junger, lebensfroher Fußballer wie Toni Kroos das auch so sieht, ist fraglich. Der Nationalspieler klang zuletzt in der Abendzeitung etwas erwartungsvoller, als es um mögliche Feierlichkeiten nach dem Hamburg-Spiel ging: "Ein Heimspiel ist ein schöner Rahmen. Ich bin dafür zu haben, dass es am Wochenende schon passiert. Je eher, desto besser!"

Hamburg vor der offenen Partytür, Juventus im Hinterkopf - dieses Dilemma schleppen die Münchner in diesen kalten Tagen mit sich herum. So passiert es, dass selbst Manuel Neuer schon über seine ersehnte Meisterpremiere hinausblickt: "Vielleicht können wir ja noch andere Sachen feiern in dieser Saison," sagte der Keeper, der neben dem internationalen Henkelpott gerne auch dem DFB-Pokal ein Siegerküsschen aufdrücken würde. Noch ist die Gemengelage alles andere als euphorisch, der Sammer-Effekt scheint die Spieler gierig zu machen.

Dabei bahnt sich gerade das nächste Novum an: Die Bayern könnten auch der erste deutsche Wintermeister werden. Die Schale in Schneezeiten hatte noch niemand sicher und München ist immer noch weiß wie Lappland im Dezember. Ungewöhnlich ist dieses seltsame Gefühl, dass die ganze Stadt wegen der Saukälte bibbert und über seine Winter-Depression grübelt, während der FC Bayern schon den Rathausbalkon bucht.

Es ist schon seltsam: Nach zwei schmerzhaften, titellosen Jahren inklusive Dortmund-Trauma muss die Freuden-Explosion warten. "Wir werden kurz zusammenkommen, dann nach Hause gehen und ab Sonntag nur noch an Juve denken. Es wird nicht mal ein Essen geben," erklärte Vorstand Karl-Heinz Rummenigge nüchtern die Planungen. "Ab dem Schlusspfiff gilt unsere Konzentration nur noch dem schweren und hochinteressanten Spiel gegen Turin." Es werde schwer, schreibt er im aktuellen Stadionheft, Juventus sei "wieder mit Abstand Italiens beste Mannschaft". Doch Bayern habe "eine gute Chance".

Sammer sieht das ähnlich: "Wir sind besser, aber wir müssen ein paar Punkte beachten, um sie zu schlagen. Wir brauchen zweimal einen guten Plan, um ins Halbfinale der Champions League einzuziehen." Die Italiener, das seien "in der Regel schön anzusehende Spieler, schwarze Haare, treue Augen, die dich anschauen - und sie sind Schlitzohren. Aber wenn du diesen Spielern nicht mindestens die gleiche Cleverness und Kompromisslosigkeit entgegenbringst, wird es schwer."

Ein Erfolg gegen Juve ist schwieriger zu erringen als gegen die Hoffenheims, Augsburgs und Hamburgs. Aber zumindest eines wird den Münchnern in diesem Duell erspart bleiben: Anstrengende Rechenaufgaben. Das Spiel am Dienstag beginnt nämlich bei 0:0.

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