Ski alpin:Abgründe einer goldenen Vergangenheit

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Der ehemalige Cheftrainer Karl Kahr zieht seine Berufung zurück.

(Foto: Eibner/imago)
  • In Bludenz beginnt der Gerichtsprozess um mutmaßlichen Missbrauch im österreichischen Skisport.
  • Der ehemalige Trainer Karl "Charly" Kahr klagt gegen eine Ex-Rennläuferin und deren Ehemann, von denen er sich verleumdet fühlt.
  • Auch Annemarie Moser-Pröll, Österreichs Jahrhundertsportlerin, sagt im Prozess aus.

Von Claudio Catuogno, Bludenz

Um 20:39 Uhr sitzt sie dann tatsächlich auf dem Holzstuhl in der Mitte des Saales, Bezirksgericht Bludenz in Vorarlberg, erstes Obergeschoss, die Beine übereinandergeschlagen: Österreichs Jahrhundertsportlerin.

"Sieben Stunden, des is ein Wahnsinn", sagt Annemarie Moser-Pröll.

Sieben Stunden, so lange läuft der Prozess da schon, so lange hat die 65-Jährige warten müssen unten im Zeugenzimmer. Und jetzt soll sie tatsächlich über ihre Entjungferung reden.

Um kurz vor 14 Uhr hatte Richterin Daniela Flatz die Tür aufgesperrt, gegen viertel nach zwei musste der Gerichtsvorsteher die Polizei holen, weil Zuschauer Stühle vom Gang ins Sitzungszimmer geschleppt hatten, das geht natürlich so nicht. Brandschutzverordnung. Als dann vier Stunden später klar ist, dass die Sache heute bis Mitternacht gehen kann, da lässt der Anwalt Manfred Ainedter den Herrn Hofrat Gerichtsvorsteher tatsächlich mit zehn Euro runter auf die Straße laufen, damit der den Taxifahrer ausbezahlt, für den es noch längst niemanden zum Abholen gibt.

"Keine Ahnung, wie man sich so was zusammenreimen kann", sagt Kahr

Man kann jene Frage, um die die stolze Skination Österreich seit Monaten kreist, halt auch nicht im Schnelldurchgang abhandeln. Sexueller Missbrauch an Rennläuferinnen in den 1960er- und 70er-Jahren, auch an Minderjährigen, und der angebliche Haupttäter: der Chefcoach persönlich, Karl "Charly" Kahr, 85 inzwischen, Österreichs Trainer-Ikone. Das ist der Vorwurf, der im Raum steht. Und die Frage war nun, ob Moser-Pröll, die einst beste Rennläuferin von allen, Olympiasiegerin in der Abfahrt 1980, fünfmal Weltmeisterin, sechs Gesamtweltcup-Siege, davon wirklich nie auch nur die kleinste Kleinigkeit mitgekriegt hat.

Nachdem Anwalt Ainedter, der Kahr in der Sache vertritt, das erste Mal das Wort ergriffen hat, ist dann klar, dass dieses Gerichtsdrama um Sex, Missbrauchsvorwürfe und Dementis am Ende in einer viel persönlicheren Frage kulminieren wird. Hat Kahr, der Trainer, Moser-Pröll, die ihm anvertraute Rennläuferin, einst sogar entjungfert? Noch ehe sie 16 Jahre alt war?

"Ich bin weder sexuell belästigt, noch missbraucht, noch vom Charly entjungfert worden", sagt Moser-Pröll. "Ich hab nie jemanden geschändet, vergewaltigt oder Sex gehabt", versichert Kahr. "Na, Sex werden'S scho g'habt haben", vermutet Richterin Flatz, "aber halt nicht mit diesen Mädchen." - "Nein, genau", sagt Kahr. "Keine Ahnung wie man sich so was zusammenreimen kann. Ich habe nicht auf so einem Niveau gelebt."

Kahr ist in Bludenz nicht der Angeklagte, er hat geklagt

Es gibt keinen Sport, der den Österreichern so viel bedeutet wie das Skirennfahren, gerade die Erfolge jener Zeit haben das Land vereint hinter seinen Pistengrößen. Und nun also, 50 Jahre später: eine Heldenzertrümmerung vor Gericht, die das Land wieder spaltet. Wem soll man glauben? Den Frauen, die von Leid und Missbrauch erzählen? Den alten Helden? "Das war doch auf Frieden aufgebaut", sagt Moser-Pröll am Freitag in Bludenz. Und nun all das. "Statt dass man zufrieden wär."

Allerdings, das muss schon dazugesagt werden, sind es in diesem Prozess Kahr und sein Anwalt, die Moser-Pröll samt der pikanten Details an die Öffentlichkeit zerren. Kahr ist in Bludenz nicht der Angeklagte, er hat geklagt, gegen eine seiner ehemaligen Rennläuferinnen und deren Ehemann, von denen er sich verleumdet fühlt.

Begonnen hatte die Geschichte im November 2017, da berichtete Nicola Werdenigg, Mädchenname Spieß, im Standard über sexuellen Missbrauch zu ihrer Zeit als Rennläuferin. Als junge Sportlerin sei man im Österreichischen Skiverband (ÖSV) damals "Freiwild" gewesen, sie selbst sei von einem Teamkollegen vergewaltigt worden. Werdenigg warf den Stein, der jetzt immer höhere Wellen schlägt. Den Namen Kahr brachten dann Anfang Februar zwei weitere Läuferinnen ins Spiel, in der SZ. Eine berichtete, sie sei von Kahr 16-jährig vergewaltigt worden, eine weitere erzählte von einer versuchten Vergewaltigung sowie dem Versuch, sie in einem Zugabteil zu Oralverkehr zu zwingen. Beide Frauen wollten anonym bleiben, gaben aber eidesstattliche Erklärungen ab. Auch gegen die SZ hat Kahr deshalb Klage eingereicht, vor dem Strafgericht in Wien.

Die Sache in Vorarlberg nahm schon vorher ihren Lauf. Da verfolgte eine ehemalige Rennläuferin, was ihre einstige Zimmerkameradin zu der Debatte zu sagen hatte: Moser-Pröll. Etwa das: "So lange ich im aktiven Rennsport mit dabei war, hat sich bei uns überhaupt nichts zugetragen, nicht das Geringste." Oder das: "Ich hätte mich zu wehren gewusst."

Eine ehemalige Rennläuferin präzisiert in Bludenz die Vorwürfe gegen Kahr

Als die Vorarlbergerin im ORF dann noch eine Doku sah, in der Kahr und Moser-Pröll "nebeneinander im Stuhl saßen wie ein altes Ehepaar", da fotografierte sie den Bildschirm ab und schickte das Foto von Kahr per WhatsApp an Moser-Pröll, dazu die Nachricht: "Dein Entjungferer Charly. Du warst noch keine 16 Jahre alt." Ihr Mann legte mit eigenen WhatsApp-Botschaften nach, etwa mit dieser: "Schämen Sie sich, einen CK in Schutz zu nehmen, der zusammen mit TS viele Mädchen missbraucht und gebrochen hat. Sie wissen das sehr genau. Ich fordere Sie auf, endlich die Wahrheit zu sagen."

"CK" ist Charly Kahr, "TS" steht für: Toni Sailer. Der nächste Alpen-Skiheld in dieser Geschichte: drei Mal Olympiasieger 1956, später Sänger und Schauspieler, in Polen 1974 kurzzeitig inhaftiert, weil er eine Frau vergewaltigt und schwer verletzt haben soll. Sailer zog seinerzeit als Sportdirektor mit dem ÖSV-Tross von Rennen zu Rennen.

Sailer war der "Blitz von Kitz". Kahr nannten sie "Downhill-Charly".

Sie hätten Moser-Pröll nur ins Gewissen reden wollen, sagten die beiden WhatsApp-Schreiber nun vor Gericht. Sie solle wenigstens mit dem "Weißwaschen" aufhören, wo sie es doch besser wisse. Moser-Pröll hingegen gab an, sie habe seitdem schlaflose Nächte. "Mir ist die ganze Lebensfreude genommen worden, das kann ich Ihnen sagen." Sie hat also Kahr angerufen und ihm die Nachrichten vorgelesen, Kahr ging zum Anwalt, der Anwalt ging zum Gericht. "Das kann man ja als ein Charly Kahr nicht stehen lassen." Und so nahm das Drama seinen Lauf. Richterin Flatz brachte noch eine Schlichtung ins Spiel, vergeblich. Darauf der Anwalt Ainedter, der diesen Nachmittag, an dem es um schwerste Missbrauchsvorwürfe ging, dennoch immer wieder feixend verbrachte: "Dann werden wir uns all die 65-Jährigen, die vergewaltigt worden sein sollen, anhören. Her damit!"

Fünf Stunden dauert allein die Befragung der Läuferin und ihres Mannes

Ein mutmaßliches Opfer saß ihm da, wie sich herausstellen sollte, schon gegenüber: die Beklagte, die Absenderin der WhatsApp-Nachrichten. Sie offenbarte sich in Bludenz als eine der beiden Läuferinnen, die auch in der SZ geschildert hatten, was Kahr ihnen angetan haben soll. Das wiederholte sie nun, nur mit noch viel mehr Details.

Wie Kahr sie in der Saison 1968/69, auf der Rückfahrt von einem Rennen in Frankreich, in sein Zugabteil gebeten und ihr den Kopf auf seinen unter der Skijacke entblößten Penis gedrückt habe; wie sie habe weglaufen können. 16 war sie damals. Und einen Vorfall Jahre später, 1976 in Québec: Da habe Kahr sie in sein Hotelzimmer gezogen und aufs Bett geworfen ("So, heute bist du dran") - im Bett daneben habe Toni Sailer gelegen, nackter Oberkörper, lüsterner Blick. Sie habe sich losreißen und ins Bad flüchten können. Sie berichtete auch von einer Verletzungen am Handgelenk, die sie davongetragen habe.

Und sie gab an, dass sie schon 1975 auspacken wollte, da musste sie wegen einer Sperre vor die Rennsportkommission des ÖSV. Als sie dort begonnen habe, über die sexuellen Ausschweifungen von Toni Sailer zu berichten, sei die Sitzung sehr schnell abgebrochen worden. Freispruch, Fall erledigt. Das ist ein Strang der Episode, der den ÖSV noch beschäftigen dürfte: ob und was damals vertuscht wurde.

Fünf Stunden dauert allein die Befragung der Läuferin und ihres Mannes. Und danach ist auch folgendes klar: Ob Kahr die Taten begangen hat, die ihm vorgeworfen werden, wird nur ein Teil der Wahrheitsfindung sein. Die beiden Beklagten müssen am Ende beweisen, dass ihre WhatsApp-Nachrichten stimmten. Der "Entjungferer Kahr". Die "missbrauchten" und "gebrochenen Mädchen", "zusammen mit TS". Schon deshalb müssen jetzt auch diese Details auf den Tisch, es hilft ja nichts.

Kahrs Kernbotschaft: "Alles ist erlogen"

Die Entjungferung also: Im Januar 1969 soll es gewesen sein, in Saint-Gervais-les-Bains. Spät abends sei Moser-Pröll ins gemeinsame Zimmer gekommen, aufgewühlt. "Er ist einfach in mich eingedrungen", habe sie gesagt, "es hat weh getan."

Als dann am Freitagabend endlich Charly Kahr in den Zeugenstand tritt, hat er nicht viel beizutragen zu all den Details. Seine Kernbotschaft: "Es ist alles erlogen." Nicht nur das mit dem vielfachen Missbrauch. Es habe auch nie Alkoholexzesse gegeben, nie Anzüglichkeiten - der Umgang sei immer "ein distanzierter" gewesen. Nicht ein einziges Mal habe er das Zimmer einer Fahrerin auch nur betreten. Man habe ja als Trainer immer "viel zu viel Arbeit gehabt". Und mit einem Zug sei er auch nie gefahren nach einem Rennen.

"Sie sind ertappt, Herr Kollege", sagt der Vertreter der Beklagten zu Kahrs Anwalt

Verleumdung per WhatsApp

WhatsApp-Nachrichten von einem Handy auf das andere, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt: Kann eine derart private Kommunikation den Tatbestand der Verleumdung oder üblen Nachrede erfüllen? Auch um diese Frage geht es in dem Prozess, den der des Missbrauchs beschuldigte, ehemalige Skitrainer Karl Kahr gegen eine Ex-Rennläuferin und ihren Mann führt. Die Auffassung des Gerichts hat Richterin Daniela Flatz schon mitgeteilt: Ja, wenn in der Nachricht ein unwahrer Vorwurf erhoben wird (hier: gegen Kahr), der den Betroffenen beim Empfänger in ein schlechtes Licht rückt. Wechselseitige Beschuldigungen reichen aber nicht aus - der Vorwurf muss gegenüber einem "Dritten" formuliert sein. Hier wäre diese Dritte: Annemarie Moser-Pröll, die ehemalige Skirennläuferin, die auch unter Kahr aktiv war. Dass sie ihrem einstigen Trainer über die WhatsApp-Nachrichten ihrer ehemaligen Teamkollegin informierte, ist Ausgangspunkt von Kahrs Klage. Und so kommt der delikate Inhalt der Nachrichten nun doch an die Öffentlichkeit: vor Gericht. Das gibt dem Prozess eine Bedeutung über den konkreten Fall hinaus; täglich wird ja millionenfach per Kurznachrichtendienst WhatsApp oder per SMS Schlechtes über Dritte behauptet. Wenn die Beklagten vor Gericht nun allerdings beweisen können, dass die Vorwürfe stimmen: Dann werden sie freigesprochen. Claudio Catuogno

Konkret wird es nur einmal: als Martin Mennel, der Anwalt des Ehepaars, aus einem Artikel auf dem Portal Österreich zitiert. Da hatte Ainedter am 9. Februar in einer ersten Reaktion auf die in der SZ erhobenen Vorwürfe gegen Kahr gesagt: "Ich habe bereits Klage eingereicht gegen jene Frau, die anonym derartige Dinge" über Kahr behaupte. "Ach, das ist recht spannend", sagte die Richterin. Mennel: "Sie haben's verstanden." - Richterin: "Ich hab's verstanden." - Ainedter: "Ich hab's nicht verstanden." - Richterin (zu Kahr): "Ihr Anwalt hat damals gesagt, es ist schon eine Klage gegen die Frau eingebracht worden, die anonym in der Süddeutschen Zeitung solche Angaben gemacht hat. Woher wusste er damals schon, dass genau diese Frau das war? Das kann doch nur der Täter wissen!" - Mennel: "Sie sind ertappt, Herr Kollege." - Aineter: "Joooo! Jetzt möchte ich endlich die Frau Moser-Pröll hören!"

Die bekommt er dann zu hören. Und Richterin Flatz kann ihr das jetzt nicht ersparen: sie mit all den Geschichten aus sieben Stunden Zeugenvernehmung zu konfrontieren. Also, der Reihe nach: Hat Kahr sie entjungfert? Hatte sie 1973 oder 1974 Sex mit ihm in Sankt Moritz, auf der einen Seite des Bettes, während ihre Teamkollegin auf der anderen schlief? Hatte sie 1974 Sex mit Toni Sailer in Anchorage, Alaska?

23:20 Uhr, der Prozess ist vertagt - jetzt werden weitere Zeugen gesucht

"Ja bin i überhaupt no Ski g'fahrn?", ruft Moser-Pröll. So viel Sex mit so vielen Leuten? "I bin doch koa Schlampen ned." Aber es geht immer noch weiter, und irgendwann schüttelt die Jahrhundertsportlerin nur noch den Kopf: "Die Welt steht nimmer lang!"

Was aber in Bludenz auch sie nicht sagen kann: Warum sollten sich gleich mehrere Frauen all das ausdenken? Sich in die Öffentlichkeit begeben mit intimsten Details - wenn sie nicht stimmen? "Ihr braucht Namen!", das ist Moser-Prölls Theorie, "ihr braucht den Sailer Toni, den Kahr Charly und die Jahrhundertsportlerin, die ihr oobaazen könnt."

23:20 Uhr, der Prozess ist vertagt. Jetzt werden erst mal weitere Zeugen gesucht, vom Anwalt Mennel, vom Anwalt Ainedter. Und irgendwann wird sich dann zeigen, ob es hier wirklich nur ums Oobaazen geht.

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