Mexikos Rafael Márquez:Kaiser mit verdrehten Kleidern

Mexikos Rafael Márquez: Nah am Staatspräsidenten: Rafael Márquez (stehend) bei der Verabschiedung der WM-Auswahl.

Nah am Staatspräsidenten: Rafael Márquez (stehend) bei der Verabschiedung der WM-Auswahl.

(Foto: Pedro Pardo/AFP)
  • Mexikos Defensivspieler Rafael Márquez wird in Russland seine fünfte Fußball-WM bestreiten.
  • Doch den 39-Jährigen begleiten Vorwürfe: Die USA hatten im August 2017 Sanktionen gegen ihn ausgesprochen, weil er in den internationalen Drogenhandel verstrickt gewesen sein soll.

Von Boris Herrmann, Mexiko-Stadt

Vor sechs Wochen beendete der Fußballer Rafael Márquez hochoffiziell seine Karriere. Er ist jetzt 39 Jahre alt, er ist müde geworden, es reicht. Bei dem mexikanischen Erstligisten Atlas aus Guadalajara hatte seine Laufbahn 1996 begonnen, als in Deutschland noch Helmut Kohl regierte. Und bei Atlas feierte Márquez nun auch sein Abschiedsfest. Nach seinem letzten Ligaspiel vergoss er ein paar Tränen, die er sich mit dem rot-weißen Vereinswappen seines Trikots abwischte. Die Zeitung Excelsior titelte: "Adiós, Kaiser von Mexiko!"

Den kaiserlichen Ehrentitel hat sich der Innenverteidiger Márquez unter anderem in vier WM-Turnieren erarbeitet, in denen er die mexikanische Mannschaft jedes Mal als Kapitän anführte. Zu seinen besten Zeiten war er beim FC Barcelona so wenig wegzudenken wie Ronaldinho oder Xavi Hernández. Sein damaliger Trainer Pep Guardiola nannte ihn einmal "meinen Stellvertreter auf dem Platz". Viele Mexikaner halten Rafael Márquez für den besten Spieler, den ihr Land je hervorbrachte, noch vor dem Torjäger Hugo Sánchez.

Er hat mehr Autorität als der Nationaltrainer. Wenn der Kapitän "Ruhe!" sagt, ist Ruhe

Seine 22. Profisaison war nach allgemeinem Expertenurteil eine seiner schwächsten. Márquez ist langsamer geworden, mal zwickt es hier, mal zieht es da, wie bei den meisten Männern in seinem Alter. Für 90 Minuten Vollgas reicht es schon länger nicht mehr. Ein Grund mehr, um aufzuhören. Es war ja ohnehin höchst erstaunlich, dass er überhaupt noch weitermachte nach dem, was sich im August vergangenen Jahres ereignete. Damals verhängte das Finanzministerium der USA Sanktionen gegen 43 mexikanische Firmen und 22 Mexikaner, die in den internationalen Drogenhandel verstrickt sein sollen. Einer dieser Mexikaner war Rafael Márquez.

Laut Erkenntnissen der US-Ermittler, die mit der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft zusammenarbeiteten, soll er jahrelang als "wichtiger Strohmann" für das Flores-Kartell von Raúl Flores Hernández, genannt "El Tío", fungiert haben. Márquez stritt die Vorwürfe damals kategorisch ab, versprach aber, mit den Behörden zu kooperieren. "Meine Aufgabe ist, das alles so schnell wie möglich aufzuklären, um wieder der Rafa Márquez zu sein, den alle kennen", sagte er in einer TV-Botschaft an die mexikanische Öffentlichkeit.

Bislang ist gar nichts aufgeklärt. In dem Fall wird immer noch ermittelt, die US-Sanktionen gelten weiterhin. Aber wer vor einem Dreivierteljahr dachte, dass Kaiser Márquez deshalb von seinem Sockel stürzen würde, der sieht sich nun schwer getäuscht. Als am vergangenen Samstag beim letzten WM-Test der Mexikaner auf heimischem Boden der Spieler mit der Nummer 4 eingewechselt wurde und von Torhüter Guillermo Ochoa ganz selbstverständlich die Kapitänsbinde überreicht bekam, erhob sich das Publikum im nahezu ausverkauften Aztekenstadion zu einem stürmischen Applaus, garniert mit "Rafa, Rafa"-Sprechchören.

Márquez mag seine Vereinskarriere beendet und mit einem Drogenkartell kooperiert haben, aber das heißt für ihn noch lange nicht, dass er deshalb auf seine fünfte WM verzichten muss. Und wenn der Kaiser beschließt, nach Russland zu reisen, dann gibt es Mexiko keinen Verbandspräsidenten, keinen Nationaltrainer und keinen Generalstaatsanwalt, der ihn davon abhalten könnte. Am Montag wurde er offiziell nominiert. Sein Ruf als ehrlicher Bürger ist zumindest stark angekratzt, er hat aber noch einen ganz anderen Ruf zu verteidigen: den des ewigen Kapitäns.

Eine große Mehrheit der Mexikaner ist weiterhin davon überzeugt, dass dieser Kapitän unverzichtbar ist. Ob er im ersten Gruppenspiel gegen Deutschland aufläuft oder nicht - fast egal. Es gebe im Kader von Nationaltrainer Juan Carlos Osorio außer Márquez keinen, der auch nur ansatzweise Führungsqualitäten habe, Osorio am allerwenigsten, sagen die Leute. Der Coach, ein ebenso verkopft wirkender wie bemitleidenswerter Kolumbianer, ist in Mexiko ungefähr so beliebt wie Donald Trump. Das Einzige, was ihm die rund 127 Millionen Bundestrainer im Land zugute halten: dass er Márquez zur WM mitnimmt, um den Laden zu ordnen. Der Sportjournalist Edgar Contreras, der die mexikanische Nationalelf seit vielen Jahren begleitet, erzählt: "Niemand hört auf Osorio. Aber wenn Rafa sagt: 'Hinsetzen, Ruhe!', dann ist Ruhe."

In der WM-Vorberichterstattung mexikanischer Medien werden jetzt die historischen Verdienste dieses Anführers gefeiert. Schon dass er bei vier Weltmeisterschaften die Spielführerbinde trug, war Weltrekord. Das fünfte Mal - eine Zugabe, um den Abstand zu den anderen Erdlingen zu vergrößern. Es haben ja überhaupt erst drei Spieler vor ihm an fünf WM-Turnieren teilgenommen: sein Landsmann Antonio Carbajal sowie Gianluigi Buffon und Lothar Matthäus.

Und auch das erfährt man jetzt in der mexikanischen Presse: Sollte Márquez in Russland ein Tor erzielen, wäre er der erste Verteidiger, der bei vier Weltmeisterschaften getroffen hätte. Soso. Worüber man seltsamerweise kaum eine Zeile liest: Was eigentlich die Ermittlungen zum Flores-Kartell machen?

Eine Zeitung berichtet, der Sohn des Drogenbosses sei Taufpate von Márquez' ältester Tochter

Ein Berichterstatter, der lieber nicht namentlich genannt werden will, erzählt, dass der Fußballverband es nicht gerne sieht, wenn man "diese Drogengeschichte" allzu breit thematisiert. Es sei dann deutlich schwerer, an exklusive Informationen oder Interviews heranzukommen. Die Zeitung Reforma hatte vor Monaten einmal erstaunlich offen über die enge Verbindung zwischen Rafael Márquez und der Familie des inzwischen verhafteten Drogenbosses "El Tío" Flores berichtet. Demnach ist dessen Sohn Raúl Flores Castro, genannt "Junior", sogar der Taufpate von Márquez' ältester Tochter. Reforma ließ bei diesem Text ausnahmsweise die Autorenzeile frei.

Vorgabe des nationalen Verbandes:

"Er soll sich zu 100 Prozent auf das Sportliche konzentrieren können, in voller Kenntnis seines persönlichen Themas (von dem wir alle hoffen, dass es schnellstmöglich zu seinen Gunsten gelöst wird)."

Der Spielerberater N., der Márquez seit 1998 betreut, räumt auf Nachfrage und mit Bitte um Anonymität ein, dass sich sein Klient und Flores junior persönlich kennen. Mit dem Vater, dem Capo also, habe Rafa Márquez aber nie zu tun gehabt und schon gar keine krummen Geschäfte gemacht. Das sehen die US-Ermittler anders. Nach ihren Erkenntnissen wurde über mehrere auf Márquez eingetragene Firmen Geld aus dem Kokainhandel des Flores-Kartells gewaschen. Diese Firmen wurden inzwischen auf Anweisung der mexikanischen Behörden allesamt geschlossen, darunter auch eine Stiftung in Zamora, der Heimatstadt des Fußballers im Bundesstaat Michoacán. Berater N. bedauert das sehr, "dort wurden 400 bis 500 Kinder ernährt", sagt er. Dass Márquez zur WM fährt, findet er "super".

Erstens sei er unschuldig, zweitens werde er im Team dringend gebraucht: "Ohne ihn benehmen sich die anderen wie Heranwachsende."

Kein Problem mit der Nominierung für die WM hat offenbar auch Mexikos Staatspräsident Enrique Peña Nieto. Als er die Nationalelf dieser Tage in den Präsidentenpalast Los Pinos einlud, um ihr alles Gute für Russland zu wünschen, durfte der Spielführer Márquez am Mikrofon die Dankesworte an den Staatschef richten. Trainer Osorio hatte ohnehin immer betont, dass er auf seinen "Leader" nicht verzichten werde, falls der Verband ihm eine WM-Freigabe erteile.

Das Leibchen mit der Aufschrift "Coca-Cola" darf er nur falsch herum tragen

Der Verband Femexfut wiederum steckt in einer bizarren Zwickmühle. Einerseits soll der Kaiser natürlich in Russland dabei sein, andererseits will die Femexfut ihre Topsponsoren nicht verlieren. Die heißen unter anderem Coca-Cola, Citibank und Adidas und sitzen oder wirtschaften in den USA. Gemäß den Sanktionen aus Washington darf aber kein gesetzestreuer US-Bürger und keine dort tätige Firma mit Rafael Márquez Geschäfte treiben. Nach längerem Hin und Her hat die Femexfut deshalb eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, mit dem herrlich umständlich formulierten Ziel, dass sich "Rafa Márquez zu hundert Prozent auf das Sportliche konzentrieren kann, in voller Kenntnis seines persönlichen Themas (von dem wir alle hoffen, dass es schnellstmöglich zu seinen Gunsten gelöst wird)".

Eine dieser Maßnahmen ist täglich auf dem Trainingsplatz zu sehen, wo alle Nationalspieler in Leibchen mit dem Logo von Coca-Cola üben. Bloß Márquez trainiert sponsorenfrei. Der Verband hat ihn angewiesen, die Trainingskleidung mit der Innenseite nach außen zu tragen. Ferner buchte der mexikanische Reisetross explizit eine Flugverbindung in Richtung Europa, die keinen Umstieg in den USA erforderte - der Kapitän darf dort nicht einreisen. Deshalb wurde er auch für das Testspiel der Mexikaner Ende Mai gegen Wales (0:0) freigestellt. Es fand in Pasadena in Kalifornien statt.

Nach seiner Einwechslung am vergangenen Samstag im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt beim 1:0 gegen Schottland war übrigens tatsächlich noch einmal jener Márquez zu bestaunen, den so viele von früher kennen. Der Rafa, als der er in Erinnerung bleiben möchte. Márquez begann in der Viererkette, übernahm dann nach wenigen Minuten - offenbar auf Eigeninitiative - den Spielaufbau im defensiven Mittelfeld, eine Position, die stets seine heimliche Liebe war. Sein Bewegungsradius blieb begrenzt, aber fast jeder seiner Pässe lag Lichtjahre über dem allgemeinen Spielniveau. Wer das gesehen hat, der versteht ein bisschen besser, weshalb sich die Mexikaner eine Weltmeisterschaft ohne ihren Kaiser nicht vorstellen können.

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