Marius Trésor:"Es haben alle geweint, wirklich alle"

1982 verlor Frankreich in der "Nacht von Sevilla" auf denkwürdige Weise gegen Deutschland. Erinnerungen von einem, der dabei war.

Interview von Javier Cáceres

Als Franz Beckenbauer Ende der Siebzigerjahre zu Cosmos New York wechselte, wäre Marius Trésor fast beim FC Bayern München gelandet. Der heute 66-Jährige galt seinerzeit als einer der besten Verteidiger der Welt. "Mein Vertrag mit Olympique Marseille lief damals noch sechs Monate. Der Sportdirektor wollte mich nicht gehen lassen und hat eine zu hohe Ablöse gefordert. Deswegen kam der Transfer nicht zustande", sagt Trésor, der derzeit als Berater für Girondins Bordeaux arbeitet. In 65 Länderspielen für Frankreich schoss er vier Tore, zwei davon gegen Deutschland: das erste Mitte der Siebzigerjahre bei einem Freundschaftsspiel in Gelsenkirchen, das zweite in der legendären "Nacht von Sevilla", im WM-Halbfinale 1982, das Frankreich nach einem 3:3 nach Verlängerung mit 4:5 Toren im Elfmeterschießen verlor.

SZ: Monsieur Trésor, was schießt Ihnen als Erstes durch den Kopf, wenn Sie an die Partie in Sevilla denken?

Marius Trésor: Es tut mir ja leid, aber vor allem die unfassbar schlechte Spielleitung durch den Schiedsrichter, der aus den Niederlanden stammte: Charles Corver. Es ist bis heute unglaublich, dass der Weltfußballverband Fifa einen niederländischen Referee aussuchte, denn Frankreich hatte in der WM-Qualifikation die Niederländer rausgeworfen. Ein Schiedsrichter aus einem anderen Land wäre neutraler gewesen. Das Spiel ist natürlich wegen des Angriffs von Toni Schumacher auf Patrick Battiston in Erinnerung geblieben, das mit einem Elfmeter und einer roten Karte für Schumacher geahndet hätte werden müssen. Aber der niederländische Schiedsrichter unternahm nichts.

World Cup 2014 - France vs Germany

Im Viertelfinale 2014 rettete die Pranke von Manuel Neuer das 1:0 gegen Karim Benzema.

(Foto: Marcus Brandt/dpa)

Sie sprechen von der brutalen Aktion des deutschen Torwarts Schumacher in der 57. Minute, beim Stand von 1:1 nach den Toren von Pierre Littbarski und Michel Platini. Schumacher stürmte aus dem Strafraum und rammte Battiston um. Sie standen damals auf dem Platz. Wie war Ihr Blick auf die Szene?

Es war ein langer, hoher Pass von Platini auf Battiston. Schumacher lief heraus und traf ihn voll. Der Zusammenprall war brutal. Stellen Sie sich nur vor: Wir sind jetzt im Jahr 2016, und Patrick Battiston hat immer noch schwere Kopf- und Nackenschmerzen, die aus dem Spiel herrühren.

Sie arbeiten mit ihm zusammen bei Girondins Bordeaux, er ist dort Co-Trainer. Er hat unsere Anrufe von einer deutschen Nummer nicht entgegengenommen.

Er spricht über das Thema nicht gern. Auch mit uns nicht. Wir vermeiden das Thema. Für ihn ist das eine sehr, sehr, sehr harte Erinnerung.

Wenn man sich die Bilder von damals anschaut, lässt einen nicht nur das Foul an sich erschaudern, sondern auch die Teilnahmslosigkeit der deutschen Nationalspieler. Kein deutscher Spieler geht hin, um zu sehen, wie es Battiston geht.

Marius Trésor: 32 Jahre vorher grätschte Marius Trésor im Halbfinale fair gegen Klaus Fischer.

32 Jahre vorher grätschte Marius Trésor im Halbfinale fair gegen Klaus Fischer.

(Foto: imago)

Dass ein Spieler ein Foul begeht, das kommt in einem Spiel vor. Das kann jedem Spieler aus jeder Mannschaft passieren. Das Entscheidende ist: Der Schiedsrichter hätte etwas tun müssen. Aber er entschied auf Abstoß. Der psychologische Schock war schon enorm, aber auch fußballerisch entstand durch Battistons Auswechslung eine gravierende Situation.

Inwiefern?

In jener Zeit durfte man zwar 22 Spieler zu einer WM berufen, aber auf dem Spielberichtsbogen durfte man nur 16 Spieler vermerken. Bei der Zusammenstellung der Ersatzspieler hatten wir damals ein Problem: Da war nicht ein nomineller Mittelfeldspieler dabei. Wir hatten zwei Verteidiger, zwei Stürmer und einen Torwart. Schon die Einwechslung von Battiston für Bernard Genghini war grenzwertig, weil Battiston Verteidiger war. Als Battiston wieder raus musste, waren wir gezwungen, einen Verteidiger einzuwechseln: Christian Lopes, der nie in seinem Leben im Mittelfeld gespielt hatte. Das hat die Mannschaft komplett destabilisiert.

Sie sind in der Verlängerung dennoch in Führung gegangen. Sie erzielten das 2:1 nach einer Ecke, danach schoss Alain Giresse das 3:1. Warum hat Frankreich diese Führung aus der Hand gegeben?

Uns fehlte Erfahrung. Sowohl dem Trainerstab wie auch uns als Mannschaft. Wir haben beim Stand von 3:1 aufgehört, anzugreifen. Das war die falsche Entscheidung. Wir hätten weiter nach vorne spielen müssen, allein schon, um sie zu beschäftigen, aber auch um sie in der Hitze müde zu spielen. Wie viel Kraft gelassen wurde, hat man ja drei Tage später gesehen. Deutschland war im Finale gegen Italien gar nicht mehr existent. Aber erinnern sie sich an den 2:3-Anschlusstreffer?

Marius TRESOR FOOTBALL Bordeaux vs Nantes 36eme journee de L1 Ligue1 09 05 2015 ThierryBreto

Marius Trésor, 66, galt einst als einer der besten Verteidiger der Welt. Heute arbeitet er als Berater für Girondins Bordeaux.

(Foto: imago)

Karl-Heinz Rummenigge traf, nachdem er in der siebten Minute der Verlängerung eingewechselt worden war.

Diesem Tor, das den Deutschen erst die Kraft wiedergab, gingen klare Fouls voraus. Erst an Michel Platini, dann an Alain Giresse. Und der Schiedsrichter pfiff wieder nichts. Das war für uns ein Schock.

Dann kam das Elfmeterschießen. Warum haben Sie eigentlich keinen Elfmeter geschossen. Wollten Sie nicht?

Doch, ich wollte unbedingt. Ich kam nur nicht mehr dazu. Ich war als siebter Schütze eingeteilt und wäre genau nach Maxime Bossis dran gewesen. Aber weil Bossis verschoss und Horst Hrubesch dann traf, war's vorbei.

Was geschah später in der Kabine?

Es haben alle geweint, wirklich alle. Wir müssen 30 Leute gewesen sein, Funktionäre, Trainerstab, Spieler. Wir waren völlig fertig. Das war wirklich das einzige Mal, dass ich erlebt habe, dass eine ganze Kabine weinte.

Weil sie um Battiston fürchteten?

Wegen Battiston, aber auch ganz profan, weil wir ausgeschieden waren. Ich war damals 32, das war für mich die absolut letzte Chance, ein WM-Finale zu spielen.

Fussball, WM 2014, WM Historie Deutschland - Frankreich

Der deutsche Torwart Toni Schumacher (Nr. 1) verletzte den eingewechselten Patrick Battiston bei der WM 1982 auf rüdeste Weise.

(Foto: imago)

Was haben Sie nach dem Spiel gemacht? Wann wussten Sie, dass Battiston außer Lebensgefahr war?

Die Mediziner haben uns recht schnell gesagt, dass er einen schweren Schlag auf den Kopf erlitten, Zähne verloren und Wirbelverletzungen davongetragen habe, aber dass sein Leben nicht in Gefahr war. Unsere Mediziner haben ihn dann wieder in ihre Obhut genommen. Wir sind nach Alicante gereist, um dort das Spiel um den dritten Platz zu bestreiten, das wir 2:3 gegen Polen verloren.

Wen hat das Foul am meisten getroffen?

Michel Platini, ohne Frage. Er hatte mit Battiston in Saint-Étienne zusammengespielt. Zudem kommen beide aus der gleichen Gegend. Patrick stammt aus Metz, Platini aus Nancy. Deinen Freund so zu sehen, ist ein irrsinniger Schock.

In der Presse gab es damals sehr viele, sehr negative Stimmen über die Deutschen. Hegen Sie Ressentiments?

Überhaupt nicht. Ich habe das auch damals nicht so mitbekommen, ich bin nach der WM direkt in den Urlaub gefahren. Für mich ist es nie die deutsche Mannschaft gewesen, die uns besiegte. Sondern der Schiedsrichter, und die Fifa. Das Schlimmste war, dass wir auf dem Flughafen gesehen haben, wie der Schiedsrichter in Sevilla mit der deutschen Delegation plauderte und lachte. Das gab uns den Rest. Und die Fifa nenne ich deshalb, weil damals der französische Fußball nicht den Rang auf internationaler Ebene hatte, den er heute hat. Für die Fifa war ein Finale Deutschland gegen Italien viel wertvoller.

Nun geht es an diesem Donnerstag wieder um den Einzug ins Finale. Frankreich spielt zu Hause, in Marseille. Glauben Sie an einen französischen Sieg?

Natürlich wäre das mein Wunsch. Ich habe in Bordeaux am Samstag das Spiel Deutschlands gegen Italien gesehen. Diese Mannschaft hat viel Charakter. Es ist ein Team, das sich nie geschlagen gibt. Sie haben Handicaps: Der Ausfall von Hummels, der mir sehr gefällt, von Mario Gomez und Sami Khedira, eventuell sogar von Schweinsteiger. Das sind alles Schlüsselspieler. Das kann ein Vorteil für Frankreich sein, das keine Verletzten oder Gesperrten ersetzen muss. Aber im Fußball gibt es keine vorhersehbaren Wahrheiten: Denken Sie nur an das 7:1 der Deutschen in Brasilien.

Die französische Mannschaft erinnert fast an das Deutschland von früher. Viel Physis, ein kräftiger Mittelstürmer und nur zwei Künstler: Antoine Griezmann und Dimitri Payet. Sie hingegen hatten Künstler wie Giresse, Platini, Tigana . .

. Zu meiner Zeit gab's das ja gar nicht, Krafträume. Das höchste aller Folterinstrumente war der Medizinball. Griezmann und Payet? Sie sind die Unvorhersehbaren, die eine gegnerische Abwehr aus der Balance bringen können.

Welcher Spieler der deutschen Nationalelf gefällt Ihnen am besten?

Der Torwart. J'adore Neuer.

Neuer? Der rennt auch stürmisch aus dem Strafraum heraus, wenn auch friedfertiger als damals Schumacher.

Ja, das kann man wohl sagen. Schumacher ist eine völlig andere Welt.

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