Marcel Kittel:"Er hat einen richtig großen Motor"

Marcel Kittel: Passt perfekt! Marcel Kittel streift das Grüne Trikot des besten Sprinters über.

Passt perfekt! Marcel Kittel streift das Grüne Trikot des besten Sprinters über.

(Foto: Christophe Ena/AP)

Was macht den deutschen Sprinter so dominant? Für sein Team birgt die Stärke des deutschen Rekordetappensiegers Gefahr.

Von Johannes Knuth, Station des Rousses/Chambéry

Christopher Froome wirkte zufrieden. Sein Rad lehnte am Hang neben der Zieleinfahrt, er plauderte mit einem Kollegen, gerade war er prächtig auf das 1000 Meter hohe Plateau im Jura-Gebirge gekommen. Jetzt schaute der Führende der Gesamtwertung zu, wie sich die Nachzügler ins Ziel der schweren Bergprüfung am Samstag schoben. Nur um die Hüften wirkte Froome irgendwie beleibter als am Vortag - was aber vielleicht daran lag, dass der Mann in Gelb bei genauerem Hinsehen gar nicht Froome war; der war längst im Teambus verschwunden. Es war ein Hobbyradler, der ein Gelbes Trikot samt Aufdruck von Froomes Team Sky trug.

Kurz darauf applaudierte der falsche Froome noch mal kräftig, wie alle Zuschauer im Ziel. Denn gerade war (der zweifellos echte) Marcel Kittel eingetroffen, Inhaber des Grünen Trikots bei dieser 104. Tour de France. Zwar eine halbe Stunde hinter dem Tagessieger Lilian Calmejane aus Frankreich, für einen Sprinter im Gebirge aber durchaus achtbar. "Das war eine harte Etappe, aber das Grüne Trikot hat sie erträglicher gemacht", sagte Kittel. Er hatte bei einem Zwischensprint noch ein paar weitere Zähler für sein Trikot erstanden, das er sich unter der Woche mit drei Etappensiegen verdient hatte.

Auf der wohl schwersten Bergprüfung der Tour am Sonntag war Kittel noch mal besonders auf die lindernden Kräfte seines Leibchens angewiesen (er behielt es), am Dienstag begibt sich die Tour aber schon wieder in die Ebene. Dann könnte Kittel den Rekord der meisten deutschen Etappensiege bei der Tour in seinen Besitz überführen - bisher teilt er sich die Bestmarke (je zwölf Siege) mit Erik Zabel.

Ein neuer deutscher Rekord?

Einer, der viel über Kittels Überlegenheit erzählen kann, ist Tom Steels, Sportdirektor von Kittels Equipe Quickstep-Floors. Der ehemalige Profi tauchte vor vier Jahren auf einer Liste von Fahrern auf, die bei Nachtests der Tour 1998 "verdächtige" Werte aufwiesen. Was den einst von (weitgehend unbewiesenen) Vorwürfen verfolgten Quickstep-Chef Patrick Léfèvre aber nicht weiter störte. Steels war jedenfalls mal ein vorzüglicher Sprinter, und mit dieser Referenz kann er auch sachdienliche Hinweise zu Kittels Dominanz bereitstellen. Die beginne schon 40 Kilometer vor dem Ziel, sagt Steels, wenn Kittels Teamkollege Julien Vermote sich vors Feld klemmt. Er wechselt sich mit Helfern anderer Teams ab, sie jagen die Ausreißer, nur so kommt es zu einer Massenankunft. Bei den vier flachen Ankünften dieser Tour stets mit Erfolg. Jetzt, zwanzig, zehn Kilometer vor dem Ziel, sammeln sich Kittels Helfer um ihren Kapitän - Vermote, Fabio Sabatini, Matteo Trentin. Präsenz zeigen, Position verteidigen. Das ist besonders wichtig, wenn die Zieleinfahrt mit vielen Kurven gespickt ist; wer hier zurückfällt, strandet oft im Mittelfeld.

Noch ein Kilometer, das Finale. Die Zeit der Sprintzüge, die Kapitäne wie Mario Cipollini wie an einer Perlenschnur Richtung Ziel führten, "ist wohl vorbei", sagt Kittel. Heute gibt es viele Mitbewerber mit vielen Helfern, auch die Klassementfahrer drängeln nach vorn, um sich aus Stürzen herauszuhalten. Wenn Sabatini und Trentin noch Kraft haben, schieben sie sich jetzt vors Feld wie bei Kittels Sieg am Freitag. Wenn nicht, wie beim Erfolg am Vortag, knapp dahinter. Sie bauen Kittel einen "Unterschlupf", sagt Steels, in dem er "noch etwas relaxen kann", der ihm aber alle Fluchtwege offen hält. Dort wartet er, 500 Meter vor dem Ziel, 300, 200. Wann er aus dem Käfig ausbricht, entscheidet er.

Bei der Ankunft in Troyes fuhr Kittel 70,49 Stundenkilometer schnell - im richtigen Moment

Im Jahr zuvor wagte er sich oft zu früh heraus, wurde von Mark Cavendish überholt. Bei dieser Tour beherrscht er die Kunst, im richtigen Moment da zu sein. "Smart fahren", sagt Marcel Kittel, das sei der Unterschied zwischen guten und sehr guten Sprintern. Der junge Franzose Arnaud Démare beschleunigte am Donnerstag in Troyes am schnellsten, er hielt den Topspeed aber nur kurz. Kittel kam gleichmäßiger ins Rollen. Am Freitag bestritt er die letzten 500 Meter in 68 Stundenkilometern im Schnitt, 70,49 waren es in der Spitze. "Er ist wie ein Truck", sagt Steels. "Er hat einen richtig großen Motor." Kittel ist damit zu schwer für Sprints, bei denen es leicht bergauf geht, "aber wenn er im Flachen ins Rollen kommt", sagt Steels, "ist er kaum aufzuhalten." Da profitiere er auch von seiner Ausbildung im Zeitfahr-Ressort; Kittel war bei den Junioren mal Weltmeister in der langen Schinderei gegen die Uhr. Am Ende gehe es um Kondition und Selbstvertrauen, sagt Steels, "da ist er allen anderen gerade einen Schritt voraus."

Für Quickstep steckt darin auch eine weniger gute Nachricht. Kittels Marktwert schnellt gerade fast stündlich nach oben, und die Tour ist nicht nur der Höhepunkt der Saison, sondern auch ein großer Transferbasar. Quicksteps Teamchef Léfèvre musste zuletzt mit Sponsoren verhandeln, die Zukunft seines Teams sichern - damit er überhaupt die Verträge seiner Fahrer erneuen konnte. Kittel wird offenbar auch heftig von Katjusha-Alpecin umworben; das Team gab sich nach diversen Dopingfällen in den Vorjahren einen frischen Anstrich: mit einem deutschem Co-Sponsor, mit der Verpflichtung von Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin. Katjushas derzeit bester Sprinter Alexander Kristoff könnte zudem im Winter umziehen. Und bei Quickstep drängelt der hochbegabte Sprinter Fernando Gaviria, 22, auf die Bühne. Man verhandle noch, sagt Kittel. "Derzeit gibt es nichts zu sagen."

Steels warb am Wochenende noch mal indirekt um seinen Kapitän. Quickstep sei eine starke Gruppe, Kittels Helfer würden ihrem Chef mit jedem Tag besser zuarbeiten. Steels sagte: "Ich weiß nicht, wie es in anderen Teams ist. Aber wir sehen oft, dass Fahrer einfach besser werden, wenn sie zu uns kommen."

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