Magic Moments - EM 1988:Das perfekte Tor

Marco van Basten hat bei der EM 1988 ein Tor geschossen, das in jedem Lehrfilm für Stürmer auftauchen sollte - und eine leidenschaftliche Rivalität auslöste. Aus der Reihe "Magic Moments".

Jürgen Schmieder

Um dieses Tor schießen zu können, muss man ein Stürmer sein. Nein, kein "Wandstürmer", kein "spielender Stürmer", auch kein "Strafraum-Stürmer". Man muss einfach nur ein Stürmer sein. Denn dieses Tor verlangt von seinem Schützen, dass er alles kann: Freilaufen. Gegner abschirmen. Ein Gespür, wo das Tor steht. Eine unfassliche Schusstechnik.

Magic Moments - EM 1988: Marco van Basten erzielte gegen Deutschland ein perfektes Tor.

Marco van Basten erzielte gegen Deutschland ein perfektes Tor.

(Foto: Foto: Imago)

Marco van Basten hat dieses Tor geschossen, bei der Europameisterschaft 1988 war das. Und nein, es war nicht sein Treffer im Finale, als er aus unmöglichem Winkel volley abzog und den Ball mit einer physikalisch eigentlich unmöglichen Flugbahn in den Winkel beförderte - und weswegen der russische Torhüter Rinat Dasajew wohl noch immer Kreislaufbeschwerden hat. Nein, van Basten hat ein anderes Tor geschossen. Es war das 2:1 im Halbfinale gegen Deutschland.

Das Spiel war bis zu dieser Minute ein typisches Deutschland-Holland-Spiel, wie es Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger so viele gab. Zweifelhafter Elfmeter für Deutschland, Matthäus trifft. Unberechtigter Elfmeter für Holland, Koeman verwandelt. Brutale Zweikämpfe. Diskussionen mit dem Schiedsrichter. Martialische Gesten im Mittelfeld. Man ahnte, dass es ein langer Abend werden könnte. In der 85. Minute hatte Franz Beckenbauer bereits Pierre Littbarski eingewechselt - in der Annahme, dass es eine Verlängerung geben würde.

Vier Minuten später ist es soweit: Jan Wouters spielt den Ball in die Spitze. Würde man im Internet-Lexikon unter dem Begriff "in die Gasse spielen" nachschlagen, müsste ein Video dieses Passes auftauchen. Diesem Ball läuft van Basten nicht hinterher, er läuft in ihn hinein. Betrachtet man die Entstehung des Tores, dann sieht man, dass sich van Basten bereits freiläuft, als Wouters noch nicht einmal im Besitz des Balles ist - geschweige denn ihn bereits gespielt hat.

Parallel zur Abwehr hat sich van Basten freigelaufen. Hansi Pflügler hebt die Hand, weil er glaubt, van Basten ins Abseits gestellt zu haben. Der jedoch hat mit der linken Hand ertastet, dass Jürgen Kohler mit ihm gelaufen war. Abseits somit unmöglich. Er sieht auf den Ball - wo das Tor steht, weiß er instinktiv und vielleicht durch einen kurzen Blick auf die Strafraumgrenze. Er ahnt auch, wohin Eike Immel sich bewegen muss. Er grätscht, um trotz des Winkels genügend Druck hinter den Ball zu bekommen. Im Rutschen schiebt er den Ball ins lange Eck. Kohler und Immel haben keine Chance.

Ein Niederländer wird zum Idol

Noch mal: Nicht Kohler kommt einen Schritt zu spät, sondern van Basten einen Schritt früher. Diese Szene war der Beginn einer langen Rivalität zwischen Kohler und van Basten - und eines der letzten Duelle zwischen einem Stürmer und seinem Manndecker. Dieser Typ Manndecker nämlich starb Mitte der Neunziger aus

Das deutsche Team war durch dieses nicht zu verteidigende Tor besiegt, nach dem Spiel kam es zu unschönen Szenen, die auch Jahre später nicht vergessen sind und die tiefe Abneigung deutscher und holländischer Fußballfans begründen. Mit Trikots wurde sich der Hintern abgewischt, es wurde gespuckt, die Fans übertrafen sich gegenseitig in geschmacklosen und sehr geschmacklosen Schmähgesängen.

Für einen neunjährigen Hobbykicker war jedoch in diesem Moment klar, dass man als Stürmer so zu spielen hat wie Marco van Basten, um erfolgreich zu sein. Man braucht Spielverständnis, Schusstechnik, Instinkt - und die besondere Fähigkeit, das Tor nicht sehen zu müssen, um den Ball hineinzuschießen. Van Basten hat ein paar Tage später das "Tor des Jahrhunderts" geschossen - mit seinem Treffer gegen Deutschland hat er gezeigt, dass er einer der besten Stürmer aller Zeiten ist. Um wunderbare Tore im Finale zu schießen, muss man erst ein anderes erzielen. Und van Basten wurde an diesem Abend - obwohl er für Holland spielte - zum Idol eines kleinen deutschen Jungen.

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