Luis Suárez beim FC Barcelona:Früher Aussätziger, heute Wühler

Luis Suarez

Luis Suarez fühlt sich sichtlich wohl beim FC Barcelona

(Foto: AP)

Luis Suárez war der Bad Boy des Fußballs. Vor dem Champions-League-Finale gegen Juventus Turin ist seine Ächtung allerdings nur noch eine Anekdote. Mit dem Uruguayer stürmt der FC Barcelona wie nie zuvor.

Von Oliver Meiler, Barcelona

Wenn einer mal den Ruf eines Bad Boy hat, dann wird er ihn kaum mehr los. So wenig wie die Klischees und die Persiflagen. Bei Luis Suárez ist es ja so, dass er sich seinen schlechten Ruf über die Jahre auch reichlich verdient hat. Ein böser Junge! Ein Beißer! Das Berliner Olympiastadion, das Endspiel in der Champions League, ist so etwas wie seine persönliche Rehabilitationsbühne vor Weltpublikum.

Ein Jahr nach jenem noch immer recht unfassbaren Vorfall an einem heißen Sommernachmittag in Natal in Brasilien, ebenfalls vor Weltpublikum, der ihn beinahe seine Karriere gekostet hätte. Sein Temperament? Zu roh für eine ganz große Weltkarriere, hieß es, zu unkontrolliert, zu verbissen halt. Nun ist er wieder da. Und es scheint so zu sein, als habe er seine eruptive Energie kanalisiert.

Schaut man dem Stürmer des FC Barcelona bei der Arbeit zu, dann gewinnt man selten den Eindruck, er habe Freude an seinem Beruf. Das Leichtfüßige geht Suárez ab. Alles an ihm wirkt ernst, erkämpft und erduldet. Dabei hat er keinen schlechten Job, unerhört gut bezahlt dazu: zehn Millionen Euro im Jahr, netto. Wenn die Arbeit gelingt, der Ball ins Tor geht, ob zufällig geschubst oder hart getreten, dann klatschen dir alle zu, dann singen sie deinen Namen. Doch auch diese Aussicht aufs minütlich mögliche Glück scheint das Gemüt dieses 28 Jahre alten Uruguayers aus armen Verhältnissen nicht aufzuhellen. Eher im Gegenteil. Er geht grundsätzlich davon aus, dass ihm das Glück nie hold ist, dass es immer ein bisschen gegen ihn ist. In seiner Autobiografie "Crossing the Line" sagt Suárez: "Es ist nicht so, dass ich gewinnen will: Ich muss gewinnen."

Das Buch ist Seelenschau und Therapie zugleich. Vor allem aber ist es ein rührend offener und zuweilen etwas fragiler Versuch, der Welt zu erklären, warum er so ist, wie er ist. Und warum er professionelle Hilfe brauchte, um sein Wesen in den Griff zu bekommen. "Im Spiel ist das Adrenalin so hoch, der Puls rast so schnell, dass das Hirn manchmal einfach nicht mithalten kann." Sagt er. So ein Spiel voller Adrenalin wäre nun auch das Endspiel gegen Juventus Turin. Mehr als Königsklasse geht kaum, mehr Druck auch nicht.

Und doch ist diesmal alles anders als an jenem 24. Juni 2014 in Natal, als Suárez im WM-Spiel Uruguay gegen Italien seinem Gegenspieler Giorgio Chiellini in die Schulter biss und selbst theatralisch zu Boden ging. Der Weltverband verbannte ihn, er durfte nicht einmal auf der Tribüne sitzen, um die Seinen zu unterstützen. Und wurde verhöhnt: als "Vampir", als "Pitbull", als "Mike Tyson des Fußballs". Im Internet zirkulierten Tausende Karikaturen und Fotomontagen. Die Biss-Szene war so grotesk, dass die Verballhornung überall auf der Welt funktionierte, in allen Kulturkreisen.

An Suárez ließ sich auch recht billig ein Exempel statuieren. Es war ja schon das dritte Mal, dass er einen Gegner gebissen hatte. So einen mag niemand verteidigen. Die Fifa belegte ihn mit einer harten Strafe: Sie sperrte ihn nicht nur viel länger als weiland Zinédine Zidane, der im WM-Finale 2006 dem Italiener Marco Materazzi immerhin den Kopf gegen die Brust gerammt hatte. Sondern sie untersagte Suárez auch, sich einem Fußballfeld überhaupt zu nähern, also: seiner Arbeit nachzugehen. Bei aller Einsicht über die eigene Unzulänglichkeit: In seiner Autobiografie wundert er sich darüber, dass sein "relativ harmloses Beißen" gesellschaftlich so viel verpönter sei als ein Faustschlag oder ein Kopfstoß. Aber gut, das Erstellen krimineller Hierarchien sollte er wohl besser anderen überlassen.

Verein seiner Träume

Suárez wechselte vom FC Liverpool zum FC Barcelona, wo sie ihn trotz Sperre und großer Vorbehalte unbedingt wollten. Groß waren auch die Zweifel, ob der Mittelstürmer in die Offensive mit Lionel Messi und Neymar passen würde. Suárez erzählt von einer quälenden Zeit, in der er ständig von Paparazzi verfolgt wurde. Immerhin kam ihm entgegen, dass er Barcelona gut kannte. Die Familie seiner Frau, der Jugendliebe Sofía, wohnt seit vielen Jahren dort. Als Teenager strebte er auch deshalb so mächtig nach Europa, weil er die Distanz zu "Sofí" nicht ertrug. Barça war immer der Verein seiner Träume gewesen. Als er noch für die Jugend von Nacional Montevideo spielte, kam er stets mit einem Rucksack ins Training, auf den er das Wappen der Katalanen geklebt hatte. Und nun war er also endlich angekommen - und musste sich verstecken. Wie ein Unhold, wie ein Aussätziger.

Bis Mitte Oktober 2014 lief die Sperre, und als er erstmals mit seinen neuen Kameraden trainieren durfte, stellte ihn Trainer Luis Enrique so vor: "Nun haben sie ihn also endlich aus Guantánamo befreit." Das Eis war schnell gebrochen. Außenverteidiger Dani Alves ließ Suárez wissen, er sei froh, nicht mehr der einzige Bad Boy zu sein. Und mit Messi trank Suárez am zweiten Tag schon Mate, das Getränk aus der Heimat, das sie dies- und jenseits des Río de la Plata schätzen. Man traf sich mit den Familien, freundete sich an.

Das Wiedersehen mit Bissopfer Giorgio Chiellini fällt aus: Der Italiener fehlt verletzt

Nur sportlich lief es zunächst nicht so gut. Erst kurz vor Weihnachten erzielte Suárez, der zunächst den rechten Flügel des Trios geben musste, sein erstes Meisterschaftstor. Ein Fehleinkauf? Doch dann wies man ihm die Position zu, die schier kongenial zu ihm passt: mittendrin im Sturm, im Zentrum des Getümmels, am Wühltisch des Spiels. Es geht die Legende um, Messi selbst habe den Rollentausch mit zwei Worten beschlossen: "Du, dort!"

Seitdem stürmt Barça, wie die Welt noch kaum einen Sturm jemals stürmen sehen hat. Und plötzlich heißt es, Suárez habe sie alle befreit. Er schaffe Räume in den gegnerischen Abwehrblöcken, wo früher keine waren, er breche Mauern mit seinem obsessiven Drängen, mit seinem Wirbeln, Wühlen, Pressen. Zum ersten Mal in seiner Karriere lastet nicht mehr alle Verantwortung auf ihm, nicht aller Druck. Suárez ist nun häufiger Vorbereiter als Vollender. Das ist seine neue Rolle, eine Nebenrolle. Sie macht ihn lockerer. Und in Barcelona war es bisher auch immer so, dass sein Hirn dem hohen Tempo seines Pulses und den Adrenalinschüben folgen konnte.

Giorgio Chiellini wird verletzt fehlen im Champions-League-Finale. Es wäre ihr erstes Wiedersehen gewesen. Ein Handschlag, vielleicht sogar eine Umarmung im Fokus der Weltöffentlichkeit vor Spielbeginn: Das hätte Suárez' Rehabilitierung beschleunigt. Im Netz spotten sie freilich weiter. Nicht immer geistreich. Doch beklagen kann er sich nicht, der Bad Boy des Fußballs. Seine Ächtung ist nur noch eine Anekdote. Er spielt. Und wie er spielt!

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